Forschung Chancengleichheit - biologisch gesehen

Persönlichkeit und Verhalten sind ebenso genetisch begründet wie unsere Haarfarbe. Doch bestimmt das Erbgut noch lange nicht, wer es in den Vorstand schafft.

Ist der Alpha nicht deshalb Alpha, weil er dazu geboren ist? Gibt es womöglich biologische Gründe, warum einer auf dem Chefsessel sitzt und ein anderer die Papierkörbe leert? Die genetische Basis alles Menschlichen ist inzwischen auch unter Verhaltensforschern und Psychologen unbestritten. Auch die der Persönlichkeit. Denn wie die großen Zehe n oder die Bronchien wird auch das Konglomerat von über hundert Milliarden Nervenzellen in unseren Schädeln nach einem genetischen Bauplan erstellt, der nicht vom Himmel oder aus der Waldorfschule stammt, sondern ererbt ist - gut gemischt je eine Hälfte von beiden Eltern. Was heißt das zum Beispiel für die menschliche Intelligenz?

Auch die hat eine biologische Basis, weil sie dem Gehirn entstammt und nicht aus einer materielosen Aura oder sonst einem Gespinst. Mindestens 50, vielleicht auch 70 Prozent unserer geistigen Wendigkeit sind genetisch vorgegeben, sagen Forscher heute. Das Erbgut übt also einen kräftigen Einfluss aus, und darum steht ein Kinderwagen in einer Pole-Position, ein anderer drei, vier Reihen dahinter. Trotzdem muss keiner erschrecken: Bei einem genetisch vorgegebenen IQ von 100 zum Beispiel ergibt sich mindestens eine Spannbreite von 70 bis 130. Darum hängt es fast vollständig von der nachgeburtlichen Bildung ab, ob ein Sprössling in der Sonderschule oder bei der Studienstiftung für Hochbegabte landet.

Natur und Kultur sind untrennbar verbunden

Wir sind also keine Gen-gesteuerten Roboter, nur weil wir ohne das Erbgut in unseren Zellen - auch denen im Gehirn - nicht existierten. Genetisches Erbe oder Erziehung - "Nature or nurture" - hieß der jahrzehntelange Wissenschaftsstreit um den Kern des Menschseins. Der Kampf ist inzwischen entschieden: Natur und Kultur sind untrennbar verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Was da anderthalb Kilo schwer lebt unter der Schädeldecke, ist nicht nur hoch komplex, sondern auch hoch flexibel.

In einem ständigen Dialog zwischen drinnen und draußen wird an der lebenslangen Baustelle zwischen unseren Ohren gearbeitet. Jede einzelne Wahrnehmung, die über die fünf Sinne ins Gehirn geleitet wird - auch unbewusst -, provoziert dort eine Antwort. Alles, ohne Ausnahme, wird bewertet und nach seiner - vor allem emotionalen - Bedeutung gespeichert. Falls nötig, wird dann umgebaut, um der neu gewonnenen Einsicht gerecht zu werden und das in Neuronen und Synapsen gefasste Weltbild anzupassen.

Wichtige Weichen werden früh gestellt

Dieser Prozess - "Lernen" im weitesten Sinne - ist lebenslang, aber nicht immer gleich effizient. Schon früh werden wichtige Weichen gestellt. Sechs Monate bis ein Jahr nach der Geburt bereits ist die Muttersprache eines Menschen biologisch im Gehirn verankert - nur vom Hören und Nachbrabbeln. Andere zeitliche Fenster scheinen sich in der Folge für weitere Eigenschaften unseres Geistes zu öffnen und zu schließen.

Was für ein Mensch wir einmal sein werden - Angsthase oder Hasardeur, Charmeur oder Kotzbrocken -, ist weitgehend bereits entschieden, wenn wir das erste Mal die Schulbank drücken. Das ist unter Neurobiologen und Psychologen kein Geheimnis mehr.

Der Input, den unser genetisch gegebenes Gehirn aufnimmt, ist also unüberschätzbar wichtig. Und fast genauso wichtig ist, wann es diesen Input erhält. Ob wir also früh gefördert oder allmählich verkorkst werden, hängt vor allem von der Welt ab, in der wir leben müssen oder dürfen.

Niemand wird zum Alpha geboren, doch kann das Gehirn auch nach dem Durchtrennen der Nabelschnur in exklusiven Internaten oder auch im Golfclub beim Plaudern unter Freunden höchst wirksam aufs Herrschen getrimmt werden.

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Frank Ochmann

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