Hans-Dieter Rieker muss gar nicht mehr hinsehen, seine Hände arbeiten von allein. Die Linke zieht die kleine 120-Liter-Tonne vom Bordstein, die Rechte die mit 240 Liter Inhalt. Mit Schwung dreht er die schwarzen Kübel, schiebt sie mit einem Hüftstoß zur Schütte. Während die Hydraulik beide Tonnen nach oben zieht, sucht der 36-jährige Müllwerker schon die nächsten Tonnen, die an der Straße stehen. Heute ist er allein hinten auf dem Müllfahrzeug, da werden es bis nachmittags vielleicht 700 Eimer sein, die er bewegt hat.
Auch Antonio Donvito ist Mülllader. Der 33-Jährige arbeitet bei der Abfallwirtschaft Stuttgart. Auch er steht hinten auf dem Bock; er holt die dunklen Tonnen mit Hausmüll aus Kellern und Verschlägen, zieht sie zum Müllauto und schiebt sie leer wieder zurück. 600 bis 700 Mülltonnen leeren zwei Mann pro Tour, bis zu 30 Tonnen Gewicht zieht Donvito am Tag hinter sich her.
Zwei Müllmänner - derselbe Job, die gleichen Arbeitsbedingungen? Keineswegs. Rieker arbeitet für die private Müllentsorgungsfirma Scherrieble in Esslingen. Er hat eine 45-Stunden-Woche, bekommt 180 Stunden im Monat bezahlt, Überstunden kann er abfeiern. Bei einem Stundenlohn von knapp elf Euro stehen am Monatsende rund 2000 Euro brutto auf seinem Gehaltszettel.
Donvito arbeitet beim öffentlichen Dienst in Stuttgart. Er hat eine 40-Stunden-Woche und alle drei Monate drei Tage frei, weil der Tarifvertrag nur 38,5 Stunden festschreibt. Er verdient 2225 Euro brutto - davon sind mehr als 200 Euro Zulagen.
In diesen Tagen unterscheidet die beiden aber noch etwas: Rieker, der Mehrarbeiter, holt den Müll wie immer ab. Donvito, der Mehrverdiener, streikt.
In Stuttgart quillt der Abfall aus Containern, blaue Säcke mit Abfall türmen sich auf den Gehwegen. Seit drei Wochen haben Donvito und seine Kollegen ihn nicht mehr abgeholt. Die Müllwerker sind im öffentlichen Dienst traditionell gewerkschaftlich am besten organisiert, und wenn sie nicht arbeiten, trifft es die Bevölkerung sofort - die Straßen verdrecken, es fängt an zu stinken. Gerade deshalb eignen sich Stadtreinigungen besonders für den großen Streik, zu dem Verdi mobil gemacht hat. Insgesamt haben in Stuttgart rund 3000 Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes ihre Arbeit niedergelegt, bundesweit sind es bis zu 40000.
Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt liegt kein Abfall auf den Straßen: Private Firmen sorgen in den Landkreisen dafür, dass die Tonnen geleert werden. Deren Angestellte hat Verdi nicht zum Streik aufgerufen. "Ich kann nicht streiken", sagt Verdi-Mitglied Hans-Dieter Rieker. "Ich halte mich da raus und guck, dass ich meinen Job mache."
Die Gewerkschaft kämpft auf zwei Ebenen. In Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg sind die Kommunen aus dem neuen Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVÖD) ausgeschert, der erst im Herbst geschlossen wurde. Sie haben die Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden pro Woche verlängert - ohne Lohnausgleich. Beim zweiten Konflikt geht es gegen die Bundesländer. Diese haben den TVÖD, der für Bund und Kommunen gilt, nicht unterschrieben. Viele stellen nur noch Leute ein, die länger und für weniger Geld arbeiten.
Die Wut der Staatsdiener scheint begründet - keiner will länger arbeiten. Übers Jahr summieren sich 18 Minuten pro Tag zu zwei Wochen Mehrarbeit. Und dennoch wirkt der Arbeitskampf wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, ein Ritual, das nicht mehr zu passen scheint. Denn die Kollegen in den neuen Bundesländern, die Beamten und viele Menschen in der Privatwirtschaft arbeiten bereits 40 Stunden und mehr. Wohl auch deshalb haben zwei Drittel der Deutschen laut Forsa-Umfrage kein Verständnis für den Streik. Die Gewerkschaft steht auf dünnem Eis. Und im Gegensatz zu den 1970er Jahren (siehe Kasten) gibt es nichts mehr zu holen.
Die Kassen sind leer. Vater Staat spart, wo er nur kann - vor allem beim Personal. In den vergangenen zehn Jahren wurden im öffentlichen Dienst 700000 Stellen gestrichen. Die Gewerkschafter fürchten, dass durch die Verlängerung der Arbeitszeit bundesweit noch einmal bis zu 250000 Stellen abgebaut werden könnten. Ihre Angst ist berechtigt: Die Arbeitgeber drohen den Streikenden mit Privatisierung.
Etwa bei der Müllabfuhr: Laut Institut für Urbanistik ist die Sammlung von Hausmüll in ländlichen Gebieten seit langem Privatsache, in vielen Großstädten holt noch der öffentliche Dienst den Hausmüll ab. Selbst wenn Verdi den Kampf gewinnt, werden Länder und Kommunen weitere Aufgaben an Privatfirmen abgeben - weil die den Job billiger machen, wie der Vergleich zwischen Hans-Dieter Rieker und Antonio Donvito zeigt.
"Wenn die 40 Stunden durchkommen, wird Kollegen gekündigt", fürchtet Donvito. "Des könnet mir net zulasse", sagt der gebürtige Italiener in bestem Schwäbisch. Bei seinem öffentlichen Betrieb, der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS), wurde in den vergangenen zehn Jahren fast ein Drittel der Stellen abgebaut: 1995 waren hier 1050 Arbeiter, Angestellte und Beamte beschäftigt, 2006 sind es noch 720. Viele neue Leute bekommen nur noch Zeitverträge. Wenn die Tarifarbeitszeit angehoben wird, bedeutet das eine Einbuße von vier Prozent. Die Arbeiter werden das auch finanziell spüren, weil Zulagen wegfallen.
Noch hat Donvito 1650 Euro netto. "Wenn die Frau nicht mitschaffen tät, würd's net reichen", sagt der Vater von drei Kindern. 700 Euro kostet ihre Dreizimmerwohnung in Stuttgart-Ost, der neue Opel Vectra muss abbezahlt werden, die Handys der Kinder kosten, und Donvito legt Wert auf modische Kleidung. Seine Frau Patricia, 31, arbeitet als Botin im Umweltschutzministerium in Stuttgart. Sie bringt 900 Euro netto heim. Beide haben noch einen Zweitjob: Nachmittags gehen Antonio und Patricia zwei Stunden putzen. Bringt für beide jeweils 300 Euro. Wenn das Ehepaar um halb sechs Uhr nach Hause kommt, warten Vanessa, 9, Anna-Maria, 11, und Piero, 14, schon auf sie.
Hans-Dieter Rieker arbeitet seit gut zwei Jahren als Müllwerker. Davor war der gelernte Schreiner arbeitslos. Mit Steuerklasse 1 bleiben ihm netto 1300 Euro. 350 Euro gehen für die kleine Zweizimmerwohnung weg, in der er mit seiner Freundin Tanja Reich, 30, wohnt. 550 Euro zahlt er monatlich an seine frühere Partnerin für den Unterhalt der zwei gemeinsamen Kinder. Seine Freundin verdient als Sekretärin im Großmarkt 1300 Euro netto, große Sprünge machen können sie nicht. Er ist trotzdem zufrieden: "Wir fahren mal in den Urlaub, ich leiste mir eine Dauerkarte beim VfB Stuttgart, wir gehen am Wochenende weg - eigentlich können wir gut leben." Allerdings nur, weil die beiden ebenfalls noch zusätzlich jobben: sie als Buchhalterin einer Tankstelle, der kräftige 1,96-Meter-Mann als Aufpasser bei einer Sicherheitsfirma.
Antonio Donvito fing vor 15 Jahren bei der Stadt Stuttgart an. Sein erstes Kind war unterwegs, der junge Familienvater wollte Sicherheit. Heute würde er das nicht wieder machen. "Die Bürger denken immer: Du hast es gut, du bist bei der Stadt", sagt er, "aber die guten Jahre sind längst vorbei." Seit fünf Jahren fahren auf vielen Touren statt drei nur noch zwei Kollegen mit. "Für uns bedeutet das mehr Stress, die Zeit reicht hinten und vorn nicht." Früher hat Donvito am Tag zehn Tonnen Gewicht gezogen, heute ist es fast das Dreifache.
"Wir sind bei Wind und Wetter draußen - das geht auf die Knochen", sagt er. Am schlimmsten ist es im Sommer, da brennen seine Füße in den schweren Arbeitsschuhen. Dazu der Gestank vom Müll in der Hitze. Viele Kollegen haben Probleme mit dem Rücken. Bei Donvito sind es die Knie, viermal wurde er schon operiert, er geht etwas schwerfällig für einen jungen Mann. "Wenn er abends nach Hause kommt, muss er sich ausruhen", sagt seine Frau Patricia.
Zu einer privaten Firma würde Don-vito trotz seiner Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen allerdings nicht wechseln. Er möchte nicht auf die Sozialleistungen der Stadt verzichten. Sein Weihnachts- und Urlaubsgeld beträgt zusammen fast ein Monatsgehalt, sein Kollege Rieker bekommt dagegen nur knapp 500 Euro Urlaubsgeld.
Doch wer nicht schon einen sicheren Job wie Donvito hat, dem bleibt gar kei-ne Wahl. So überrascht es nicht, dass sich bei Wolfgang Geiselmann, dem kaufmännischen Leiter der privaten Entsorgungsfirma Scherrieble in Esslingen, die Bewerbungen stapeln. Viele Interessenten haben sogar Realschulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung. "Früher waren sich die Deutschen zu schade für diese Art von Arbeit. Das ist vorbei", sagt Geiselmann.
Nur Bewerber aus dem öffentlichen Dienst hat er selten. "Bei kommunalen Betrieben herrscht oft ein anderes Klima als bei uns - viele machen Dienst nach Vorschrift", sagt Geschäftsführer Rainer Scherrieble. Andere aus der Entsorgungsbranche werden noch deutlicher. "In der Privatwirtschaft wird das Personal mehr gefordert, denn auch bei uns wird die Konkurrenz immer größer. Viele Firmen versuchen inzwischen, mit Zeitarbeitsfirmen ihre Kosten zu drücken", sagt Karsten Kleinschmidt, Niederlassungsleiter der Firma Altvater für den Großraum Stuttgart. "Ein Job als Mülllader bei einem kommunalen Betrieb ist dagegen wie ein Platz an der Sonne."
Eine Sonne allerdings, die immer kraftloser scheint. Im neuen Tarifvertrag sind nicht nur Prämien für Leistung und flexible Arbeitszeitkonten vorgesehen, sondern auch Niedriglohngruppen. Die Schere bei den Löhnen geht auf - wie in der Privatwirtschaft. Antonio Donvito streikt, weil er möchte, "dass alles so bleibt, wie es ist". Das wird nicht gehen, inzwischen herrscht auch beim Staat Wettbewerb. Sein Chef Manfred Krieck weiß das gut. Der Geschäftsführer der Abfallwirtschaft Stuttgart kam vor eineinhalb Jahren von einer privaten Entsorgerfirma zum öffentlichen Dienst. Heute sagt er: "Ich muss die AWS wettbewerbsfähig machen. Vielen meiner Mitarbeiter fällt es noch schwer, sich dieser Realität zu stellen."
Von Helge Bendl und Catrin Boldebuck