START UP Silicon Blues

Es war das Zentrum der New Economy. Jetzt warten im kalifornischen Silicon Valley alle auf den nächsten Boom - und genießen derweil das Leben.

Erst traf es den Mann am Schlagzeug, dann den Gitarristen und schließlich den Sänger. Ein Glück für die Band. »Als wir arbeitslos wurden, haben wir gesagt: Kommt, jetzt packen wir's an«, sagt Hansel Lynn, 31, von der Rockgruppe »Timmy Ramen«. Jetzt hatten die fünf Freunde aus San Francisco das, was während des Internet-Booms noch schwieriger zu finden war als eine Parklücke in der Innenstadt: Freizeit.

»Früher gingen praktisch alle Abende für Dotcom-Partys drauf«, sagt Schlagzeuger Ed Chuang, 36. »Das war nett, aber anstrengend.« Manchmal vergingen Monate ohne Konzert. Heute üben sie 15 bis 20 Stunden pro Woche. Das reicht, um Hits einzuüben und in Clubs aufzutreten. Wenn sie Glück haben, bestellt ihnen der Veranstalter Pizza zur Stärkung. »Es geht mehr darum, Spaß zu haben, als darum, Geld zu verdienen«, sagt Gitarrist Wayne Teng, 36. »Wir waren alle clever genug, etwas beiseite zu legen.«

So spielen sie »I Will Survive« und »Boys Dont't Cry«, bis die Wirtschaft sich wieder erholt hat. Das kann dauern. Viel heiße Luft ist aus dem Silicon Valley entwichen, seit die Internetblase vor zweieinhalb Jahren platzte. 378 Firmen, von fiebrigen Anlegern auf einen Marktwert von 1,5 Billionen Dollar getrieben, zählte die Branche in besten Tagen. Etliche fielen ins Bodenlose, als die New Economy plötzlich alt und runzlig aussah.

Nirgendwo in Kalifornien ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie im Herzen des Silicon Valley: 7,6 Prozent im Juli. Die Party ist vorbei, doch »unter dem Kater leiden wir immer noch«, sagt Michael Perkins, Koautor des Buches »The Internet Bubble«. »Alle bekommen es zu spüren: die Restaurants, Anwälte, Notare, PR-Firmen, alle.« Bei der jüngsten Zählung im Juli stand im High-Tech-Tal jedes fünfte Büro leer.

Und doch: Die Wüste lebt. Sie ist vielleicht sogar fruchtbarer als zuvor. Oberflächlich betrachtet lebt das ehemalige Obstanbaugebiet im Norden Kaliforniens seit Jahrzehnten vom Ideenreichtum seiner Computerspezialisten, die sich den Mikrochip einfallen ließen, den PC und das Internet. In Wahrheit jedoch besteht das Erfolgsgeheimnis des Silicon Valley darin, sich ständig neu zu erfinden. Am liebsten in der Krise. Deshalb kann ein Börsencrash hier niemanden so leicht erschüttern.

Manchem kam die Krise gerade recht. »Der Dotcom-Boom hat mir Sorgen gemacht«, sagt Paul Saffo, Zukunftsforscher und Leiter des »Institute for the Future« in Menlo Park. »Wir waren dabei, an unserem Erfolg zu ersticken. Mehr und mehr Leute kamen her, um das schnelle Geld zu machen - eine geistige Verfettung, wenn Sie so wollen. Diese Leute sind alle wieder weg. Wer jetzt noch hier ist, gehört zu den wahren Gläubigen.«

Wer eine Weile im Valley lebt, kennt das Auf und Ab. Seit den siebziger Jahren folgte mehrmals dem Hoch eine Phase der Abkühlung. Warum sollte es diesmal anders sein? »Wir haben doch immer noch unsere Universitäten, unsere schlauen Köpfe und unsere unglaubliche Infrastruktur«, sagt Jamis MacNiven. »Wir müssen uns einfach nur wieder etwas Neues einfallen lassen.«

MacNiven, ein 53-jähriger Schalk mit Vorliebe für schrille Hemden, ist so etwas wie der gute Geist des Silicon Valley und nebenbei Besitzer von »Buck's« in Woodside - einem legendären, mit Schnickschnack voll gestopften Restaurant, in dem ungezählte Firmen gegründet wurden. An einem unauffälligen Eichenholztisch in der Ecke zum Beispiel Netscape, dessen Börsengang 1995 zur Stunde null der Internet-manie wurde. Am ersten Tag sprang der Kurs von 14 auf 58 Dollar. »Wir sind alle ein bisschen verrückt und gierig geworden«, sagt MacNiven. »Aber nicht jeder war ein Hochstapler. Viele haben mit Herz und Seele an ihrer Idee gearbeitet, und es ist einfach nichts geworden.«

Manche gaben auf, andere sitzen wieder bei »Buck's« und versuchen, Geld aufzutreiben. »Es ist ja nicht so, dass hier plötzlich alles zum Halten gekommen wäre«, sagt der Risikokapitalgeber Stewart Alsop, der seit 1983 im Valley lebt. »Ich kenne niemanden, der wirklich deprimiert ist. Vorsichtig vielleicht und auch ein bisschen verwundert, was schief gelaufen ist - aber wir wissen etwas, was der Rest der Welt nicht weiß: Viele große Unternehmen wurden in schlechten Zeiten gegründet.« Also, schiebt er mit sarkastischem Lachen nach: »Her mit den schlechten Zeiten!«

Das Gute an schlechten Zeiten, jedenfalls für Gründer, ist: Die Mieten fallen. In San Mateo kostet ein Quadratmeter Bürofläche 30 Dollar - vor zwei Jahren waren es noch 76. Und man findet wieder Mitarbeiter. »Während des Booms war der Markt für Manager leer gefegt, da mussten Sie jeden nehmen, der einen Puls hatte«, sagt Larry Grotte, 55, Investor aus San Francisco. »Jetzt sehen Sie plötzlich viel graues Haar bei Start-up-Firmen - Leute mit Erfahrung.«

Wenn es nur nicht so schwierig wäre, an Kapital zu kommen. Die beste Geldquelle sprudelt nicht mehr, sie tröpfelt nur noch: Sechs Milliarden Dollar Wagniskapital im vorigen Jahr - das ist ein Bruchteil der 21 Milliarden im Jahr 2000. Auch Privatanleger sind knauserig geworden. »Vor drei Jahren haben sie Schecks über 200 000 Dollar ausgestellt«, sagt Scott Slinker, Chef der Start-up-Firma Forecourt aus San Jose, »jetzt geben sie dir 20 000.«

Es ist morgens um neun, und Slinker fehlen genau diese 200 000 Dollar zum Glück. Er steht in einem Konferenzraum in Menlo Park vor einer Runde von Geldgebern und versucht, ihnen ein Stück von seinem Glück zu verkaufen: »Alles, was wir brauchen, um profitabel zu werden, ist eine Million Dollar«, sagt Slinker - und 800 000 lägen schon auf der Bank. Skeptische Blicke. Forecourt hat die Reste eines Start-ups gekauft, das zu Boom-Zeiten mit 50 Millionen Dollar überschüttet wurde. Die Firma ging trotzdem Pleite, der Chef war er selbst.

Er macht aus dem Scheitern eine Tugend. »Wir sind erfahrene Manager«, sagt Slinker, 42, Brille, Geheimratsecken, fünf Kinder. Forecourt will Zapfsäulen in elektronische Litfasssäulen verwandeln: Während der Kunde tankt, erscheint auf der Anzeige Werbung. Slinker wirft Köder aus: »Ein großer Ölkonzern könnte uns übernehmen«, sagt er, »oder ein Medienunternehmen.«

Nur keinen Börsengang versprechen, das Wort ist tabu, »beinahe eine rote Flagge«, sagt Investor Larry Grotte, der von Slinkers Vortrag angetan ist, aber Geld rückt er nicht raus, »die falsche Branche«. »Die Finanzierung ist sehr schwierig geworden«, sagt Grotte: »Manche nennen es den ,nuklearen Winter«.» Andere sehen «die beste Gelegenheit zum Investieren seit den frühen achtziger Jahren» - so Carol Sands vom Angels? Forum in Los Altos, einer Gruppe von Privatanlegern. Sands und ihre Engel-Kollegen haben in diesem Jahr schon 25 jungen Unternehmen eine Finanzspritze gegeben, weit mehr als 2001. «Keiner verschwendet mehr unsere Zeit mit Ideen, die auf Servietten gekritzelt sind. Alles ist gut durchdacht.»

Schon träumt das Silicon Valley den Traum vom »next big thing« - der nächsten großen Idee, die einen Goldregen über dem Garten Eden der Technikwelt ausschütten wird. Das drahtlose Internet, Bio- und Nanotechnologie gehören zu den heißesten Anwärtern. Mag sein, dass es noch eine Weile dauert. Dann warten sie halt und genießen die Freizeit vor dem Stress. »Dies ist das beste Jahr meines Lebens«, sagt Telly Chang, 32, der bei Timmy Ramen Gitarre spielt. Er ist seit Monaten arbeitslos wie die meisten seiner Freunde, aber sie hatten ja vorher gut verdient. So kann er ausschlafen, ausgehen und Musik machen. »Finanziell ist es ein harter Schnitt«, sagt Chang. »Aber sollte ich morgen sterben, dann wenigstens als glücklicher Mann.«

Karsten Lemm

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