Die große Koalition hat sich gleich zu Beginn der Legislaturperiode unter hohen Zeit- und Erwartungsdruck gesetzt. Noch vor der Sommerpause sollten zentrale Reformvorhaben und -korrekturen angegangen und zumindest in Grundstrukturen erkennbar sein. Zugleich gaben beide Koalitionspartner die Losung aus, gerade eine große Koalition sei zu solch großen Reformen in der Lage.
mit Agenturen
Arbeitsmarkt
Die großen Arbeitsmarktreformen sind für die zweite Jahreshälfte angekündigt. Im Zentrum stehen voraussichtlich der Niedriglohnsektor, der Kündigungsschutz und eine weitere Generalüberholung der Hartz-Gesetze. In einem ersten Schritt wurden wegen eines unerwartet hohen Kostenanstiegs Korrekturen an der Hartz-IV-Gesetzgebung der rot-grünen Koalition vorgenommen. Außerdem machte der Bundesrat ab August den Weg für schärfere Kontrollen und enger ausgelegte Vorschriften frei. Zuvor war das Arbeitslosengeld II im Osten auf Westniveau angehoben worden und liegt bundesweit jetzt bei 345 Euro.
Junge Arbeitslose
Arbeitslose unter 25 Jahren, die im Haushalt der Eltern leben, erhalten nur noch den um ein Fünftel gekürzten ALG-II- Regelsatz. Bereits seit April dürfen sie nur noch mit Genehmigung der Behörden von daheim ausziehen und einen eigenen Haushalt auf Staatskosten gründen.
Lebensgemeinschaften
Bei Partnern, die länger als ein Jahr zusammenleben, unterstellen Behörden ein eheähnliches Verhältnis mit gegenseitigen Unterhaltspflichten. Trifft die Vermutung nicht zu, müssen die Betroffenen den Gegenbeweis glaubhaft machen.
Neuer Gründerzuschuss
Die bisherige Ich-AG und das Überbrückungsgeld werden durch einen neuen Gründerzuschuss für Arbeitslose von 300 Euro monatlich ersetzt. Es gibt ihn für maximal 15 Monate.
Missbrauch
Um Leistungsmissbrauch auf die Spur zu kommen, prüfen Kommunen und Arbeitsagenturen, ob die Betroffenen schwarz arbeiten oder falsche Wohnverhältnisse angeben. Langzeitarbeitslose müssen jederzeit erreichbar sein und dürfen sich nicht ohne Abmeldung vom Wohnort entfernen.
Sanktionen
Wer einen Antrag auf Arbeitslosengeld II (ALG II) stellt, erhält umgehend ein Job- oder Qualifizierungsangebot. Wird dies abgelehnt, werden sofort die Leistungen - auch Wohn- und Heizkosten - für drei Monate um 30 Prozent gekürzt. Beim dritten Mal einer Verweigerung kann die Unterstützung komplett gestrichen werden.
Vermögensfreibeträge
Der Freibetrag für Schonvermögen zur Altersvorsorge steigt von 200 auf 250 Euro je Lebensjahr. Der Freibetrag für andere Vermögensarten wird von 200 auf 150 Euro je Lebensjahr gesenkt.
Familie
Elterngeld
Von 2007 an sollen berufstätige Väter und Mütter durch das Elterngeld finanziell abgesichert werden, wenn sie nach der Geburt ihres Kindes vorübergehend aus dem Beruf aussteigen. Das Elterngeld ersetzt das bisherige Erziehungsgeld, das nur bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze gezahlt wurde. Der Elternteil, der nach der Geburt zu Hause bleibt, erhält 67 Prozent seines bisherigen Nettogehalts - maximal 1800 Euro pro Monat. Arbeitslose und Studenten bekommen einen monatlichen Sockelbetrag von 300 Euro, der nicht mit anderen Sozialleistungen verrechnet wird. Das Elterngeld wird zwölf Monate gezahlt. Dank der Partnermonate kann die Bezugsdauer aber auf insgesamt 14 Monate verlängert werden, wenn auch der andere Partner mindestens zwei Monate für die Kinderbetreuung zu Hause bleibt.
Kinderbetreuungskosten
Als weitere Maßnahme, um Familie und Beruf besser zu verbinden, können Kinderbetreuungskosten abgesetzt werden. Rückwirkend zum 1. Januar können vom ersten Euro an pro Kind zwei Drittel aller Kosten bis zu einer Obergrenze von 4000 Euro im Jahr angerechnet werden. Dies gilt für berufstätige Eltern und für Alleinerziehende mit Kindern unter 14 Jahren sowie Alleinverdiener- Familien mit 3- bis 6-jährigen Kindern.
Föderalismus
Der Bundesrat hat bereits die erste Stufe einer Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen beschlossen. Der weitaus schwierigere Teil steht aber noch an: die Neujustierung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern einerseits und den Ländern untereinander.
Bundestag und Landtage
Mit einer klareren Kompetenzabgrenzung erhalten Bundestag und Landtage mehr gesetzliche Gestaltungsmöglichkeiten. Die Quote der Bundesgesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, soll von jetzt 60 Prozent auf 30 bis 40 Prozent sinken.
Bildung
Die Länder werden in ihrer Bildungspolitik gestärkt. Für die Zulassung zum Studium kann künftig jedes Land eigene Regelungen treffen und dabei vom Bundesrecht abweichen. Der Bund kann aber Sonderprogramme im Hochschulbereich - etwa zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze - auflegen, wenn alle Länder zustimmen.
Haushaltsdisziplin
Bund und Länder werden per Grundgesetz zur Sparsamkeit verpflichtet. Sanktionszahlungen an die EU trägt der Bund zu 65 Prozent, die Länder zahlen 35 Prozent.
Kompetenzaufteilung
Künftig sind die Länder für Dienstrecht, Besoldung und Versorgung der Landes- und Kommunalbeamten zuständig. Ihnen obliegt auch die Regelung von Strafvollzug, Heimrecht sowie des Ladenschlusses und Gaststättenrechts. Der Bund bekommt neue Zuständigkeiten für das Bundeskriminalamt.
Umwelt
Der Bund erhält direkte Kompetenzen für Naturschutz, Landschaftspflege und Wasserhaushalt. Damit kann er erstmals ein Umweltgesetzbuch schaffen. Die Länder können aber in Einzelbereichen abweichen.
Gesundheitswesen - die Finanzierung
Um die sich ständig verschlechternde finanzielle Situation des Gesundheitssystems in den Griff zu bekommen, setzt die große Koalition auf zwei Neuerungen:
Gesundheitsfonds
Das gesamte Geld für die gesetzlichen Krankenkassen soll in einen Topf fließen. Die Kassen erhalten aus diesem Fonds für jeden Versicherten einen einheitlichen Beitrag - sowie je nach Alter, Krankheit und Geschlecht weitere Mittel. Die Finanzierungslücke 2007 soll durch eine Beitragserhöhung um etwa 0,5 Prozentpunkte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen werden. Die Anhebung trifft auch Rentner, was die Rentenkasse belastet. Zunächst war bei Union und SPD auch eine weitere Steuererhöhung im Gespräch, die fallen gelassen wurde, nachdem sich wegen der bereits beschlossenen Steuererhöhungen erheblicher Widerstand abzeichnete.
Steuern
Etwa zehn Prozent des Gesundheitssystems sollen mittelfristig über Steuern finanziert werden. Die Rede ist von 14 bis 16 Milliarden Euro, was etwa dem Posten für die beitragsfreie Kinderversicherung entspricht. 2008 beginnt der Einstieg mit 1,5 Milliarden Euro, 2009 sind es 3 Milliarden. Die Steuern sollen dafür nicht erhöht werden, die Summen sollen aus dem laufenden Haushalt kommen. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) wies solche Überlegungen als nicht machbar zurück. Damit steht eine weitere Steuererhöhung - spätestens in der nächsten Legislaturperiode - im Raum. Im Gegenzug sollen die Beitragssätze im gleichen Umfang gesenkt werden. Die jetzige Steuerfinanzierung von 4,2 Milliarden Euro 2006 soll aus Spargründen 2007 auf 1,5 Milliarden und 2008 auf Null zurückgehen.
Gesundheitswesen - strukturelle Änderungen
Ärztliche Versorgung
Hochspezialisierte Behandlungen sollen nun häufiger ambulant im Krankenhaus durchgeführt werden. Bei teuren Therapien müssen Ärzte eine zweite Meinung einholen. Das bei Ärzten unbeliebte Honorarsystem nach Punkten soll bis Anfang 2009 durch ein Vergütungssystem in Euro nach Pauschalen ersetzt werden.
Arzneimittel
Für Arzneimittel wird eine Preisverordnung nach Höchstpreisen entwickelt. Apotheker sollen niedrigere Preise vereinbaren können. Werden so nicht 500 Millionen Euro gespart, tragen die Apotheker die Differenz durch einen Kassenrabatt. Tablettenpackungen können besser rationiert werden.
Leistungskatalog
Bei Krankheiten etwa nach Schönheitsoperationen, Piercings oder Tätowierungen werden die Leistungen der Kassen beschränkt. In den Katalog aufgenommen wird Rehabilitation im Alter und die Versorgung Sterbender. Mütter-Kind-Kuren werden zur Pflichtleistung.
Private Krankenversicherung
Die Privatkassen können ihre Patienten nicht mehr so auswählen wie bisher ("Kontrahierungszwang"). Sie müssen früher privat Abgesicherte, die den Versicherungsschutz verloren haben, sowie freiwillig versicherte Angestellte mit einem Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze zu einem Basistarif aufnehmen. Dies gilt auch für Kranke, chronisch Kranke und Personen, die heute von Privatkassen abgelehnt werden. Damit will die Koalition erreichen, dass künftig jeder Bundesbürger versichert ist. Mehr Wettbewerb soll erreicht werden, indem die Versicherten ihre Altersrückstellungen mitnehmen können, wenn sie wechseln.
Wettbewerb
Vom Fondsmodell verspricht sich die große Koalition mehr Wettbewerb und Kosten sparende Fusionen bei den rund 250 Kassen. Sparsame Kassen können ihren Versicherten Geld zurückzahlen. Kassen, die nicht mit dem Geld auskommen, müssen einen prozentualen oder pauschalen Zusatzbeitrag erheben. Die Obergrenze beträgt ein Prozent des Haushaltseinkommens.
Haushalt & Finanzen
Bevor die große Koalition an die Reformen ging, beschloss sie ein riesiges Haushaltssanierungsprogramm. Dazu baute sie Subventionen weiter ab und erhöhte in erheblichem Maß Steuern. Allerdings schuf die Koalition dabei über ein neu aufgelegtes Wachstumsprogramm neue Steuervergünstigungen.
Steuererhöhungen
Im Haushaltsbegleitgesetz 2006 wurden die Mehrwertsteuer und die Versicherungsteuer zum 1. Januar 2007 um jeweils drei Prozentpunkte von 16 auf 19 Prozent erhöht.
Subventionsabbau
Zunächst wurden Ende 2005 die Eigenheimzulage und etliche Steuersparmodelle abgeschafft. Im Steueränderungsgesetz 2007 wurden dann erhebliche Einschnitte vor allem bei der Pendlerpauschale und beim Sparerfreibetrag beschlossen.
Rente
Die Rentenkassen weisen weiter massive Finanzprobleme auf. In einem ersten Schritt wurde das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre heraufgesetzt. Von 2012 an wird das Eintrittsalter schrittweise um einen Monat, ab 2024 um zwei Monate pro Jahr erhöht. Damit wird das Rentenalter 2029 bei 67 Jahren liegen. Versicherte mit 45 Beitragsjahren können weiter mit vollendetem 65. Lebensjahr abschlagfrei in Rente gehen.
Parallel dazu will die Koalition eine Initiative zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen für Menschen über 50 starten. Die Rentner müssen weiter mit Nullrunden rechnen, Rentenkürzungen will Schwarz-Rot aber vermeiden.
Unternehmensbesteuerung
Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hat Eckpunkte für eine umfassende Unternehmensteuerreform vorgelegt. Sie soll 2008 in Kraft treten. Strittige Details sollen bis Herbst geklärt werden. Vorgezogen auf 2007 wird der Teilbereich Erbschaftsteuer.
Finanzierung
In den ersten Jahren plant Steinbrück eine Anschubfinanzierung von bis zu fünf Milliarden Euro. Mittelfristig soll die Reform aber aufkommensneutral bleiben.
Steuersätze
Die Aufkommensneutralität soll durch die Senkung der Gesamtsteuerbelastung der Unternehmen erreicht werden. Dadurch wird die Bemessungsgrenze erweitert. Zudem hofft Steinbrück, dass international arbeitende Unternehmen durch attraktivere Steuersätze ihre Gewinne wieder in Deutschland veranlagen. Die Steuerbelastung soll von derzeit knapp 39 auf knapp unter 30 Prozent gesenkt werden. Dazu soll für Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuer gesenkt werden.
Neue Steuern
Grundsätzlich soll die Körperschaftsteuer durch eine föderale Unternehmensteuer und die Gewerbesteuer durch eine kommunale Unternehmensteuer ersetzt werden. Beide sollen eine einheitliche Bemessungsgrundlage bekommen. Die Höhe des neuen föderalen Unternehmensteuersatzes ist offen. Zuletzt im Gespräch war eine Senkung von 25 Prozent auf deutlich unter 20 Prozent. Außerdem soll es eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge geben. Im Gespräch waren zunächst 30 Prozent, die mittelfristig auf 25 Prozent gesenkt werden sollen.
Personengesellschaften
Profitieren sollen von den Steuerentlastungen auch Personengesellschaften, die der Einkommensteuer unterliegen und laut Finanzministerium den Großteil aller deutschen Unternehmen ausmachen. Hier prüft die Koalition, ob eine Investitionsrücklage steuerlich begünstigt wird oder einbehaltene und nicht ausgeschüttete Gewinne.
Erbschaftsteuer
Firmennachfolger sollen bei der Erbschaftssteuer entlastet werden. Dies soll aber an den Erhalt von Arbeitsplätzen geknüpft werden.
Weitere Reformvorhaben
Agrar
Die stärkere Förderung von Forschung und Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft ist noch nicht gesetzlich verankert. Gescheitert ist zunächst der geplante Haftungsfonds mit den Pflanzenzüchtern. Daraus sollten Schäden bei einer möglichen Verunreinigung von Nachbarfeldern mit genverändertem Material beglichen werden. Statt dessen sind nun individuelle Regelungen wie das Aufkaufen von Ernten geplant.
Energie
Die Wirtschaft hat auf dem Energiegipfel im April Investitionen in alternative Energien und Kraftwerke von 70 Milliarden Euro bis 2012 zugesagt. Der Streit um längere Laufzeiten von Atomkraftwerken schwelt aber weiter. Dabei hatte die große Koalition vereinbart, dass sie an dem noch unter der rot-grünen Regierung beschlossenen Atomausstieg nicht rütteln will. Demnach sollen bis 2020 alle Meiler vom Netz gehen.
Verbraucher
Das Gesetz für mehr Verbraucher-Informationen ist bereits umgesetzt, wenn auch mit so zahlreichen Ausnahmen für Firmen, dass Verbraucherschützer es als 'zu verwässert' bemängeln. Behörden müssen über Gesundheitsgefahren und Rechtsverstöße informieren, Unternehmen können sich aber auf Geschäftsgeheimnisse berufen. Zudem gilt bei Behörden eine Bearbeitungsfrist von einem Monat. Die Verbesserung von Lebensmittelkontrollen ist zum Teil umgesetzt. Ein Verbot für Dumping beim Verkauf von Lebensmitteln, das besonders auf Discounter-Praktiken abzielt und das im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, steht noch aus.
Verkehr
Die steuerliche Förderung der Nachrüstung von Diesel-Autos mit Rußfiltern und ein Aufschlag für Fahrzeuge ohne diesen Standard ist noch nicht auf den Weg gebracht. Mehrere Länder sperren sich und befürchten Belastungen für ihre Haushalte. Für den geplanten Börsengang der Deutschen Bahn ist das Modell einer strikten Trennung von Netz und Betrieb nach langem Hin und Her jetzt vom Tisch. Bis September will sich die Bundesregierung endgültig festlegen.