STATISTIKAMT Beschiss mit Zahlen?

Betrugsaffären beim EU-Statistikamt Eurostat in Luxemburg bringen Kommissionspräsident Prodi und seinen Vize Kinnock in Bedrängnis. Versucht Kinnock, den Skandal zu vertuschen?

Edward Ojo hat eine tolle Karriere hinter sich. Als Praktikant fing der Nigerianer 1989 in den Büros des EU-Statistikamtes Eurostat in Luxemburg an, jetzt ist er ein erfolgreicher Unternehmer. Eurostat und andere EU-Dienststellen geben ihm Aufträge in Millionenhöhe, seit der 48jährige sich mit seiner Beratungsfirma Eurogramme selbständig machte. Ojo und 23 Mitarbeiter betreuen nach eigenen Angaben die offizielle Datenbank über die EU-Beitrittsländer, sie forschen über »Frauen in der Wissenschaft« und organisieren Wettbewerbe für junge Verbraucher. Fünf seiner Beschäftigten sitzen sogar in Kommissionsbüros und helfen, so Ojo, beim »Management von Forschungsaktivitäten«.

Manipulationen gehen weiter

Der zierliche Mann erklärt sich den Erfolg damit, dass »man weiß, dass man uns trauen kann«. Das verwundert, denn es besteht der Verdacht, dass sich Ojo Aufträge mit gefälschten Angaben erschlichen hat. Kommissionsbeamten wissen davon und verhelfen ihm trotzdem zu immer weiteren Überweisungen. Die Geschichte ist hochpeinlich für EU-Komissionspräsident Romano Prodi und seinen Chefreformer Neil Kinnock. Noch vor wenigen Wochen, als der holländische Beamte Paul van Buitenen mit neuen Skandalvorwürfen Schlagzeilen machte (stern Nr. 10/2002), beteuerten Kinnocks Leute hoch und heilig, alle diese Betrugsfälle hätten »ihren Ursprung« in der Zeit vor Prodi. Jetzt zeigt sich: Die Manipulationen gehen weiter und Prodis und Kinnocks Ankündigungen, Mauscheleien mit »null Toleranz« zu erwidern, waren nicht viel wert.

Falsche Umsatzzahlen flogen auf

So hält auch Kinnock den Unternehmer Ojo weiter in Ehren, obwohl er wissen müßte, dass der Mann unter Täuschungsverdacht steht. Um 1998 an seine ersten Aufträge zu kommen, reichte der gelernte Buchhalter bei Eurostat und der Generaldirektion Verbraucherschutz Umsatzzahlen ein, die nicht mit denen im Handelsregister am Londoner Firmensitz übereinstimmen - aus null Euro Umsatz in 1996 machte er so 1,17 Millionen. Spätestens seit Dezember 2000 ist der Schmu den Eurostat-Bossen bekannt. Interne Prüfer prangerten damals den Fall in einem vertraulichen Bericht an: »Eurogramme hat in seinem Angebot falsche Informationen über finanziellen und operationellen Ressourcen der Firma geliefert«, heißt es in dem Prüfreport, den Kinnock nach eigenen Angaben kennt. Eurostat habe diese Angaben »nicht hinreichend geprüft«, kritisierten die Kontrolleure. Zur Strafe könne man Eurogramme jetzt von weiteren Aufträgen ausschließen.

Logische Konsequenz blieb aus

Angesichts Prodis Null-Toleranz-Linie wäre das die einzig logische Konsequenz gewesen. Doch nichts geschah. Ojo bekam gleich danach neue Aufträge: etwa die Organisation einer Eurostat-Konferenz auf Kreta im Juni 2001.

Nicht genug, dass die Firma sich dem Verdacht der Trickserei aussetzte: Eurogramme brach nach Ansicht der Prüfer überdies »vertragliche Verpflichtungen« und versäumte es, bestellte Dienstleistungen rechtzeitig zu liefern. Arbeiten für die wichtige EU-Statistik Prodcom, zu der auch 15.000 große deutsche Industriebetriebe monatlich Daten zuliefern, führte die Firma laut Prüfbericht mit bis zu siebenmonatiger Verspätung aus. Zwei zuständige Beamte taxierten den Wert der Arbeiten auf etwa 120.000 Euro. Doch erstaunlicherweise zahlte Eurostat 192.000 Euro, um die 60 Prozent mehr.

Ojo bestreitet, schlecht gearbeitet zu haben. Aber warum genießt er solch massive Gunst der Eurostat-Beamten? Hat es etwas zu tun mit dem vertraulich operierenden »Netzwerk« von Forschern und Beamten, das laut Eurogramme-Selbstdarstellung hinter der Firma steht? Demnach basieren »die Aktivitäten« der Firma »sehr weitgehend« auf der Erfahrung dieser Mitglieder, doch die genössen »Geheimhaltung«. Das klingt bizarr, doch Ojo versucht, alle Verdachtsmomente zu zerstreuen. Eurostat-Beamte seien nicht Mitglied im Netzwerk, versichert er. Nach Ansicht des dänischen Europaabgeordneten und Haushaltsexperten Freddy Blak muß sich nun das EU-Betrugsbekämpfungsamt Olaf die Sache genau ansehen, jetzt schon laufen gleich mit mehrere Untersuchungen betreffend Eurostat. Allerdings haben sich die von dem Deutschen Franz-Hermann Brüner geleiteten Ermittler dabei bisher nicht mit Ruhm bekleckert. Schon seit 1998 liegen ihnen detaillierte Hinweise über die Mißwirtschaft bei dem Luxemburger Amt vor, doch bis vor kurzem gingen Brüners Leute ihnen nicht ernsthaft genug nach. Obwohl »schwere Betrugsvorwürfe« vorlagen, hätten die Ermittler die Informationen bisher »nicht angemessen behandelt«, ja sogar nicht einmal »ordentlich abgeheftet«, klagten Olaf-Juristen im Januar in einem internen Papier.

Das EU-Statistikamt mit seinem Jahresetat von 116 Millionen Euro vertraut schon seit Jahren auf dubiose Zuliefer wie den später der Bestechung verdächtigten Franzosen Claude Perry, in dessen Sold Ojo Anfang der 90er Jahre zwei Jahre lang stand. Eigentlich müßte Eurostat auf höchste Seriösität achten, denn dort laufen alle wichtigen Zahlen und Daten der EU-Wirtschaft zusammen. Von Eurostat hängt es ab, in welche Regionen Milliardensubventionen fließen und welchen Ruf die deutsche Volkswirtschaft im Vergleich zu anderen europäischen Ländern genießt.

Kostenträchtige FehlerquellenKostenträchtige Fehlerquellen

Trotzdem häufen sich die Pannen, der Gesamtschaden ist noch nicht abzusehen. Die Luxemburger Firma Deba-Geie wurde von Eurostat erst mitgegründet und dann plötzlich wieder aufgelöst, 50.000 Euro Schulden übernahm Eurostat-Chef Yves Franchet im Namen der Steuerzahler. Die Gesellschaft Eurocost Asbl erhielt offenbar überhöhte Zahlungen, dann wurde sie liquidiert und schuldet der Kommission immer noch 250.000 Euro. Das massive Outsourcing ist nicht nur kostenträchtig, es entstünden auch viele Fehlerquellen, sagt Eric Heyer von dem Pariser Wirtschaftsinstitut OFCE. Er entdeckte im März eine schwerwiegende Panne der EU-Statistiker: Eurostat unterbewertet seit 1997 systematisch die französische Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung. Grund: Ein Unterauftragnehmer hatte offenbar fälschlich im französischen Bausektor ein Preisniveau festgestellt, das um 47 Prozent über dem EU-Schnitt lag. Frankreich rutschte dadurch laut Heyer vom siebten auf den zwölften Platz in der Wohlstandstabelle, hinter Deutschland. Die Panne hatte allerdings womöglich einen positiven Nebeneffekt für Paris: Mehr Subventionen aus dem EU-Strukturfonds.

Kritik prallt ab

Nur in den Augen von Kommissar Kinnock ist Eurostat-Boss Franchet weiterhin ein vorbildlicher Behördenchef, der »total quality management« praktiziere: Der Kommissar ernannte den Franzosen sogar zum Chef einer Arbeitsgruppe, die Reformvorschläge für die ganze Kommissionsadministration machen sollte. Vorwürfe gegen Franchets Statistikamt läßt der britische Politiker nicht gelten. Und so wies er jetzt auch die Beschwerde einer dänischen Eurostat-Beamtin ab. Sie hatte die Firma des der Umsatzfälschung verdächtigten Ojo für die schlechte Arbeit bei Prodcom abgemahnt und versucht, die massive Überbezahlung zu verhindern. Der Versuch, Steuergelder zu retten, bekam der Frau jedoch schlecht: Statt sie zu unterstützen, solidarisierte sich ihr Vorgesetzter bei Eurostat mit Ojo. »Sie gaben ihr keine Unterstützung«, frohlockt der Unternehmer heute noch.

Verfänglicher Brief

Tatsächlich sah sich die Beamtin durch ihre Vorgesetzten sogar gemobbt. Sie schilderte den Fall Kinnock und bat um Hilfe. Doch der Kommissar ließ die Beamtin im Regen stehen, in einem Brief vom 25. Januar 2002, der nun den Kommissar selbst dem Manipulationsverdacht aussetzt, denn er enthält Falschbehauptungen. Um die Argumente der Dänin zu widerlegen, erwähnt der Kommissar eine Sitzung mit dem heutigen Eurostat-Personalchef Ovidio Crocicchi im August 2000, doch die kann schon deshalb nicht stattgefunden haben, weil Crocicchi damals noch gar nicht Personalverantwortlicher war. Zu Lasten der Beamtin zitiert der Brite selbst den Unternehmer Edward Ojo und kommt zu dem Fazit, die Beschwerde der Dänin sei »unbegründet«.

Warum unterstützt der Kommissar Kinnock den Unternehmer Ojo? Auf Fragen von stern.de mochte der Politiker nicht antworten.

Hans-Martin Tillack