Wer heute morgen bei Lidl Lebensmittel einkaufen wollte, hatte dafür reichlich Platz - denn die vielen Menschen, die vor Öffnung der 2600 Filialen des Discounters warteten, wollten etwas ganz anderes: Bahntickets. Bereits um 6:00 Uhr machten es sich Kunden vor der Filiale in Hamburg-Altona gemütlich. Ausgerüstet mit Campingstühlen warteten sie in immer länger werdenden Schlangen bis zur Ladenöffnung. Als sich Punkt 8:00 Uhr die Türen öffneten, drängten rund 100 Leute in den Markt. Mehrere Kassen verwandelten sich zu Bahnschaltern. Geordnet wechselte Fahrkarte für Fahrkarte den Besitzer.
Pendler wittern Schnäppchen
"Ich bin Pendler und fahre jede Woche mit der Bahn nach Dresden", sagt Martin aus Ottensen, der stolz seine fünf ergatterten Bahnfahrkarten präsentierte. "Obwohl ich eine Bahncard habe, fahre ich mit den Lidl-Tickets billiger", begründet er seinen Kauf beim Discounter. 49,90 Euro verlangt Lidl für eine Heftchen mit zwei Fahrkarten. Allein eine Hin- und Rückfahrt von Hamburg nach Dresden kostet normalerweise mit Bahncard 50 rund 67 Euro.
Jede der beiden Fahrkarten aus der Sonderaktion gilt deutschlandweit für jeweils eine Fahrt in der 2. Klasse - und das bis zum 3. Oktober 2005. Kinder unter sechs Jahren fahren kostenlos mit - allerdings muss in den ICE-Sprintern und Nachtzügen ein Aufpreis gezahlt werden. Verlockend genug, um auch nach dem Anfangs-Run auf die Karten weitere Hoffnungsvolle zu Lidl zu treiben.
Wer zu spät kommt, den bestraft Lidl
"Gibt's noch Karten", diese Frage werden die Verkäuferinnen im Laufe des Tages noch öfter hören. Denn schon um 8.16 Uhr war der Spuk vorbei. "Wir sind ausverkauft", meldete die Kassiererin in Altona. Enttäuschte Kunden hatten die Möglichkeit sich in eine Liste einzutragen. "Wir benachrichtigen Sie, wenn nochmal Karten nachkommen", war die lapidare Antwort auf die vielen Anfragen. Nach Auskunft von Lidl-Verkäufern soll versucht werden, diese Kunden nachträglich mit Bahntickets zu versorgen. Dazu sollen Karten aus Lidl-Filialen umverteilt werden, die keinen so starken Andrang zu verzeichnen hatten.
Wie viele Tickets überhaupt in der Filiale vorrätig waren, mochte niemand beantworten. Selbst am Tag des Verkaufsstarts wollte in den Konzernzentralen von Lidl und der Bahn weiterhin niemand sagen, wie viele Karten insgesamt zur Verfügung standen. Nur, dass über eine Million Fahrscheinhefte im Angebot waren, wurde bekannt gegeben. "Für uns ist die Aktion ein voller Erfolg", sagte Konzernsprecher Gunnar Meyer.
Letzte Hoffnung eBay
Die Hoffnung vieler leer ausgegangener Kunden, dass die Bahn weiter Karten an der Lidl-Kasse plazieren würde, zerschlug sich allerdings bald. Zwar hatte die Bahn die Aktionsdauer bis zum 28. Mai angesetzt - sich aber gleichzeitig mit dem Hinweis "Verkauf nur, so lange der Vorrat reicht" abgesichert. Auf Nachfrage von stern.de bestätigte eine Bahnsprecherin Donnerstag Mittag, dass die Bahn keine weiteren Ticketheftchen über Lidl plazieren wird: "Unser Kontingent ist zur Gänze ausgeschöpft". Wie viele Kunden über die Wartelisten von Lidls Umverteilungsaktion profitieren werden, ist noch offen.
Wer unbedingt eines der Lidl-Tickets will, dem bleibt nur noch der Blick ins Internet. Zwar ist laut den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Bahn und Lidl ein Weiterverkauf verboten - aber nur wenige Stunden, nachdem die Billigtickets vergriffen waren, tauchten die ersten zu deutlich höhreren Preisen beim Online-Auktionshaus eBay auf. Für Preise um die 80 Euro wechselten dort die begehrten Heftchen den Besitzer. Käufer und Verkäufer dürften keine Sanktionen zu befürchten haben. Zwar hatte die Bahn im Vorfeld der Verkaufsaktion angekündigt, dass entsprechende Angebote bei Auktionshäusern gelöscht werden - aber eBay erklärte Donnerstag Nachmittag, nichts gegen den Verkauf unternehmen zu wollen.
Hartmuts Resterampe
Das angestrebte Ziel der Billig-Ticket-Aktion wurde dennoch verfehlt: Wollte die Bahn doch durch ihre Kooperation mit dem Lebensmitteldiscounter eine neue Käuferschicht erschließen, die bislang an Bahnfahrten nicht interessiert war. An die Lidl-Kassen drängten sich allerdings fast ausschließlich preisbewusste Pendler und andere Bahncard-Besitzer. Angesichts des riesigen Wirbels, der im Vorfeld um den Kartenverkauf gemacht wurde, ist die Aktion eher gelungene PR-Nummer, als durchdachtes Zielgruppen-Marketing. Die Auslastung der Züge dürfte zur Freude von Bahn-Chef Hartmut Mehdorn jetzt kurzfristig verbessert worden sein. Der Verdacht, dass so nur "Reste" an Kartenkontingenten verschleudert wurden, bleibt. "Hartmuts Resterampe" eben.