Werner Otto ist tot Der Deutschland-Verschicker

Er fing mit Schuhen an, die er Gurken nannte: Innerhalb weniger Jahre baute Werner Otto seinen Versandhandel zum weltweiten Konzern auf. Ein Rückblick auf das Lebenswerk des Kriegsflüchtlings.

Manchmal beginnen tolle Geschichten mit schiefen Absätzen. "Unsere Schuhe waren schlecht, wir nannten sie auch Gurken", sagt Werner Otto. 1948 hatte er als Kriegsflüchtling aus Westpreußen in Hamburg eine kleine Schuhmanufaktur aufgebaut. "Mein Optimismus wurde von keinerlei Fachwissen angekränkelt", sagte der Versandhauskönig 2006, im Alter von 97 Jahren. Als die Fabrik floppte, probierte er es eben mit dem Schuhversand. Auf jede Katalogseite klebten er und seine Mitarbeiter zwei Fotos und schrieben den Preis mit der Hand daneben, bis ihnen die Finger lahm wurden. 28 Paar Schuhe waren im Angebot - und wurden fleißig bestellt. "Im nächsten Katalog erweiterten wir das Sortiment um zwei Trenchcoats sowie vier Aktentaschen", erzählt Werner Otto.

Am Mittwoch starb der Firmengründer im Alter von 102 Jahren, wie seine Familie jetzt mitteilte. Er hinterlässt einen Konzern, dessen Katalog mittlerweile telefonbuchdick ist, und über dessen Onlineseiten mehr Waren bestellt werden als über fast jeden anderen Händler - mit Ausnahme von Amazon. Und selbst wer den Katalog nicht kennt, shoppt bei Otto, denn halbe Einkaufsstraßen gehören dem Unternehmen: Sport Scheck, Alba Moda und Manufactum - steht zwar nicht Otto drauf, aber die Familie hat ihre Finger drin. Wie auch bei Banken, Inkassodiensten, Reisebüros, Dutzenden Einkaufszentren und anderen Immobilien weltweit, selbst von der New Yorker Skyline gehört dem Clan ein Stückchen. Die Ottos sind mächtig geworden und milliardenschwer.

Die Mitarbeiter nennen sich "Ottonen"

Die Geschichte des Unternehmens Otto und der Menschen dahinter, sie erzählt vom Wandel der Republik: von den Aufbaujahren, in denen Werner Otto fast jedes Jahr den Umsatz verdoppelte und zwischen 1949 und Mitte der 60-Jahre einen der führenden Versandhändler der Republik aufbaute. Vom Aufbegehren in den 60er Jahren, als sein Sohn Michael gegen den Muff der alten Zeit demonstrierte. Von der Wiedervereinigung, die Otto einen Boom bescherte, weil in der DDR der Versandhandel per Dekret in den 70er Jahren eingestellt worden war und sich die Leute erst mal auf die Kataloge stürzten. Und schließlich von der Gegenwart, in der das Familienunternehmen sich neu ausrichtet, Teile des Konkurrenten Quelle geschluckt wurden und die "Ottonen", wie sich die Otto-Mitarbeiter nennen, plötzlich ein neues Wort lernen mussten: Personalabbau.

Nur eines ist über all die Jahre gleich geblieben: Alle finden die Ottos gut. "Sie sind von einer geradezu aggressiven Bescheidenheit", sagt ein Mitarbeiter - und meint damit wohl, dass es kaum auszuhalten ist, wie uneitel die sind, da gibt es ja gar nichts zu lästern. Wo man auch nachfragt, bei Gewerkschaften und Betriebsräten, in allen politischen Lagern, selbst bei den Konkurrenten: Kein böses Wort fällt über Werner Otto und Michael, seinen ältesten Sohn, der 2007 vom Vorstandschef in den Aufsichtsrat wechselte und für dessen Abschiedsfeier, zu der alle Mitarbeiter eingeladen waren, eigens die Hamburger Sporthalle gemietet wurde.

Werner Otto ließ sich von seiner ersten Frau scheiden, als die Kinder noch klein waren. Ingvild und Michael blieben bei der Mutter. In der Schule wurden sie wegen ihres westpreußischen Akzents "Polacken" genannt. Nicht nur deshalb lernten sie früh Demut. Michael musste im Hamburger Hafen arbeiten, um eine Skandinavienreise zu finanzieren. Werner Otto erzog seine Kinder bodenständig. Michael Otto sei keiner, "der mit einem Golfschläger in der Hand auf die Welt gekommen ist", sagte einmal sein alter Studienfreund und Ex-Staatsminister Michael Naumann.

Michael Otto kam mit 28 Jahren als jüngster Vorstand Deutschlands zu dem Handelshaus und wurde 1981 Vorstandsvorsitzender. Ihm fehlte allerdings das Charisma des Vaters, im Unternehmen beäugten sie ihn mit Misstrauen. Doch er erwarb sich bald einen Ruf als kluger Stratege und baute den Versand um zum Weltkonzern. Bei seinem Antritt als Vorstandschef setzte das Unternehmen knapp zwei Milliarden Euro um. Heute liegen die Einnahmen gut sechsmal so hoch, weltweit arbeiten 49.000 Menschen für die Firmengruppe.

Lebensabend in Berlin

Michael Otto glaubt, dass die Firmenübergabe so erfolgreich war, weil sein Vater ihm völlige Freiheit ließ: "Viele Familienunternehmen scheitern, weil die Älteren den Jüngeren noch jahrelang in alles reinreden." Für Werner Otto war ein Herzinfarkt mit 53 "die Warnung". Er übergab die Firmenleitung erst dem Otto-Manager Günter Nawrath, dann seinem Sohn. Fortan ließ er sich nur noch selten in Hamburg blicken, kaufte Wohnhäuser in Toronto, Bürotürme in New York und baute in ganz Deutschland Dutzende großer Einkaufszentren. Sein neues Firmenreich, die ECE-Immobiliengesellschaft, übergab er seinem jüngsten Sohn Alexander. Zuletzt lebte Werner Otto zurückgezogen mit seiner dritten Ehefrau Maren in Berlin. Er hinterlässt fünf Kinder.

Sein Konzern definierte sich nie über ein bestimmtes Produkt- sondern vor allem über den Kundenservice. Die Kunst, einen Artikel in richtiger Anzahl auf Lager zu haben und dann auch schnell zu liefern, musste Otto allerdings mühsam erlernen. Werner Otto erlebte am Anfang noch manche Panne: Wegen fehlerhafter Eingaben seiner Mitarbeiter wurde eine Kundin permanent mit Nachtschränkchen beliefert. 1954 irrte sich der Einkaufschef und bestellte Plisseeröcke, die für fünf Jahre gereicht hätten. Erst als das Lager überquoll, entdeckte Werner Otto den Fehler.

Der Zeitgeistspiegel

Der Otto-Katalog hatte nicht nur eine praktische Funktion für die Kunden - er hielt den Deutschen schon immer den Zeitgeistspiegel vor. Nierentische und Sofalandschaften waren der Hit in den 50ern; damals wurden die BHs und Mieder noch gezeichnet, damit kein echter Busen die prüden Bürger verschreckte. In den 60ern kamen Miniröcke, Beatles-Platten und Farbfernseher.

Die 70er brachten Schlaghosen und den Sitzsack. In den 80ern präsentierten die "Dallas"- und "Denver-Clan"-Stars Linda Gray und Joan Collins monströse Schulterpolster.

Überhaupt, die Titelmädchen: Claudia Schiffer, Heidi Klum, Eva Padberg oder Gisele Bündchen lächelten vom Otto-Katalog. In der Eingangshalle der Firmenzentrale lief einst ein Video, in dem Padberg im Otto-Bikini auf den Bahamas planscht und kichernd sagt: "Wir deutschen Models sind so beliebt, weil wir so umkompliziert sind, das nette Mädel von nebenan." Das passt perfekt zum Otto-Image, das da wäre: brav, konservativ, auch ein wenig tantig.

Nikola Sellmair/stern.de