Viele junge Menschen hadern nach der Schule mit der Entscheidung, was sie mit ihrem Abschluss machen wollen. Entscheiden sie sich für ein Studium, das wilde Campus-Partys und vermeintlich bessere Jobchancen verspricht? Oder doch lieber für ein geregeltes Einkommen in der Ausbildung?
Ausbildende Betriebe in Deutschland haben seit Jahren mit offenen Lehrstellen zu kämpfen. Die Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Achim Dercks, diagnostizierte im vergangene Jahr ein "Allzeithoch" beim Azubi-Mangel. 42 Prozent deutscher Unternehmen konnten Ausbildungsplätze nicht besetzen.
Wenn nach Schuldigen für diese Situation gesucht wird, fällt der Blick schnell auf junge Studierende. Der Vorwurf: Sie würden durch den Gang an die Universitäten aktiv zum Auszubildendenmangel in Deutschland beitragen. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung und dem CHE Centrum für Hochschulentwicklung ist die Wahrheit allerdings ein bisschen komplizierter.
Die Ergebnisse entlarven drei der beliebtesten Mythen rund um die Akademisierung.
Mythos I: "Der Studienboom nimmt den Betrieben die Azubis weg"
Die unten stehende Grafik zeigt, dass nicht nur die Zahl der neuen Auszubildenden zwischen 2011 und 2021 von 733.000 auf 660.000 gesunken ist. Gleiches gilt auch für die Studienanfänger:innen: Deren – immer noch niedrigere – Zahl ist im selben Zeitraum von 519.000 auf 470.000 zurückgegangen.
Es gibt in Deutschland deutlich mehr junge Menschen, die eine Ausbildung aufnehmen, als solche, die ein Studium beginnen. Der aktuelle Auszubildendenmangel in Deutschland lässt sich also nicht allein mit einer wachsenden Beliebtheit des Studiums begründen. Vielmehr ist ersichtlich, dass er sich durch die Folgen der Corona-Pandemie verschärft hat. In dieser Zeit ist allerdings auch kein Anstieg der Zahl von Studierenden zu erkennen.
Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man einen Blick auf die Berufe mit den aktuell höchsten Anteilen an unbesetzten Ausbildungsplätzen wirft. Das sind laut Erhebungen des Bundesinstituts für Berufsbildung Klempner:innen, Fachverkäufer:innen im Lebensmittelhandwerk und Fleischer:innen. Keine dieser Berufsgruppen steht in direkter Konkurrenz zu einem akademischen Beruf.
Vor 60 Jahren erlangten tatsächlich deutlich weniger junge Menschen das Abitur als heute. Mitte der 1960er-Jahre waren es lediglich sieben Prozent der Schulabgänger:innen. Das entspricht jeder 14. Person. 2021 hält laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung immerhin fast jede zweite Person ein Abitur oder Fachabitur in der Hand.
Mythos II: "Alle Schüler:innen machen sowieso nur noch Abitur"
Der wesentliche Anstieg erfolgte allerdings nicht in letzter Zeit, sondern bereits bis Anfang der 2000er-Jahre. Seit zehn Jahren ist kein wesentlicher Anstieg der Quote der Studienberechtigten mehr zu beobachten. Die Entwicklung stagniert und ist in den letzten Jahren sogar gesunken.
Vor zwei Jahren betrug die Studienberechtigtenquote 48,4 Prozent. Fünf Jahre zuvor, im Jahr 2015, waren es noch 53 Prozent. Jeder zweite junge Mensch steht demnach vor der Entscheidung: Uni oder Ausbildung?
Das Abitur ist aber kein exklusives Angebot für Gymnasiast:innen mehr. Gemeinschaftsschulen in Berlin oder Stadtteilschulen in Hamburg ermöglichen auch früheren "Realschüler:innen" den höchstmöglichen Abschluss. Auch berufliche Schulen spielen eine wichtige Rolle. Hier werden rund ein Drittel der Studienberechtigungen vergeben.
Mythos III: "Alle, die Abitur machen, studieren dann doch auch"
Auch dieser Mythos lässt sich durch aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes widerlegen. Immer mehr Auszubildende in Deutschland haben zuvor ein (Fach-)Abitur erlangt. Vor 15 Jahren hatten 18 Prozent ein (Fach-)Abitur, heute sind es 30 Prozent – fast jede:r dritte Auszubildende.
Die Zahlen der Studienanfänger:innen bleibt zeitgleich stabil. Die Neueinschreibungen für einen Bachelor-Studiengang im Wintersemester liegen seit zehn Jahren auf einem gleichbleibenden Niveau um die 400.000 Erstsemester-Studierende.