Nimmt sie eine Designertasche unter die Lupe, sieht Victoire Boyer Chammard aus wie eine Zahnärztin. Weißer Kittel, Handschuhe, den Mundspiegel fest im Griff. "Er ist mein wichtigstes Arbeitsutensil", sagt die 36-Jährige. Ihr Patient heute: eine graue "Kelly Bag" von Hermès, die sie auf ihrem Schreibtisch untersucht.
Behutsam schiebt sie den Spiegel ins Innere der Tasche, lugt in Ecken, vergleicht die Seriennummer und kontrolliert, ob die Nähte mit einem für die Marke typischen Doppelfaden gesteppt sind. "Diese Details verraten mir, ob ein Designklassiker echt oder gefälscht ist", sagt Chammard.
Die Französin leitet die Authentifizierungsabteilung von Vestiaire Collective, einem Onlinemarktplatz für gebrauchte Luxusmode. Vier Logistikzentren gibt es weltweit, das größte befindet sich in der Nähe von Lille, 200 Kilometer vom Hauptsitz in Paris entfernt. Das Unternehmen hat Millionen aktive Nutzer, die täglich 30.000 neue Produkte zum Verkauf hochladen: Pullover von Celine, Slipper von Gucci, Handtaschen von Chanel. Manche von ihnen sind rar und teuer, andere wechseln zum vergleichsweise kleinen Preis den Besitzer.

Doch wo mit Luxus gehandelt wird, sind Fakes nicht weit. "Jedes zehnte Teil ist mittlerweile eine Fälschung", sagt Boyer Chammard. Hinter ihrem Schreibtisch steht eine Kleiderstange, die gefüllt ist mit Kopien. Häufig sind es Handtaschen; sie bieten Fälschern die größte Gewinnspanne.