Abraham Simon Derar steht vor einer Teigformmaschine. Teigstücke, die in wenigen Minuten zu Brötchen gebacken werden sollen, rollen auf Bändern in seine Richtung. Die klebrige Masse ist ein wenig zu weich. Er nimmt Klumpen für Klumpen in die Hand, wendet sie in Mehl und formt sie ein wenig nach. Schließlich soll das gebackene Endergebnis nicht nur schmecken, sondern auch möglichst gut aussehen. "In Eritrea gab es kein Ziel für mich. Ich hätte keine Möglichkeit gehabt, nach dem Studium zu arbeiten", sagt er mit kräftiger, lauter Stimme, während im Hintergrund permanent die Maschinen rumpeln. "Also entschloss ich mich 2015, nach Deutschland zu kommen."
Drei Jahre später steht Derar in Scharmbek, einem Ortsteil der norddeutschen Kleinstadt Winsen (Luhe). Der 28-Jährige trägt ein weißes T-Shirt, auf der Brust prangt das Logo der Bäckerei Soetebier. Eine weiße Mütze bedeckt seine Haare. In Eritrea arbeitete er nach der Schule als Soldat. Jetzt bereitet er Teigstücke für Weizenbrötchen vor. Durch die Fenster an einer Wand sieht er die Gäste im Verkaufsraum, die gerade an Tischen sitzen und frühstücken. Die Filiale im 30.000-Einwohner-Ort liegt verkehrsgünstig an der A39. Oft machen Durchreisende hier einen Zwischenstopp.
Für Derar ist Deutschland kein Zwischenstopp auf einer Durchreise. Hier ist seine neue Heimat. Hier will er bleiben. Doch leicht fiel ihm die Entscheidung nicht, ohne seine Familie und Freunde alleine nach Deutschland zu kommen. "Ich vermisse sie sehr", sagt er. In seiner Stimme schwingt für einen kurzen Moment Wehmut mit. Er wirkt nachdenklich, während er über seine Vergangenheit spricht und Teigstücke auf das Blech legt.
Gleichzeitig weiß er, dass er aufgrund seiner Ausbildung zum Bäcker endlich wieder eine echte Zukunft hat. Eigentlich wollte er KFZ-Mechaniker werden, hatte bereits einen Job gefunden. "Das war aber nichts für mich", sagt er und schiebt ein Blech mit Teigstücken auf einen Rollwagen. "Die Sprache war zu schwierig. Wegen der ganzen Elektrik im Auto."
Sechs Auszubildende arbeiten in der Backstube – alle sind geflüchtet
30 Bäcker und Konditoren arbeiten bei der Bäckerei Soetebier. Sechs Auszubildende hat der Betrieb in der Backstube angestellt. Alle von ihnen sind aus ihren Heimatländern geflüchtet. So auch der 22-jährige Afghane Semiallah Mohammadi, der von seinen Kollegen nur "Sammy" genannt wird. Er musste seinen Heimatort Ghazni, ein kleiner Ort bei Kabul, verlassen. "Dort war Krieg" sagt er. "Meine Flucht dauerte sechs Monate. Unterwegs schlief ich auf dem Boden und in Häuserruinen."
Die Route führte ihn über den Iran, die Türkei und Griechenland schließlich nach Deutschland. "Einmal habe ich mit meiner Mutter telefoniert und sie erzählte mir, dass die Taliban ihr Dorf aus drei Richtungen attackiert haben." Viele Familien seien vor oder nach dem Angriff geflüchtet. Seine Eltern mussten bleiben. "Sie sind zu alt. Jetzt leben sie in Angst."
Als er beginnt, über seine Arbeit in der Bäckerei zu sprechen, hellt sich seine Miene auf. Er erzählt, wie er mit dem Wunsch, ein Praktikum zu machen, in eine Verkaufsfiliale von Familie Soetebier ging. Ein Bekannter hatte ihm den Tipp gegeben, dass die Bäckerei Mitarbeiter suche. Seine Sprachlehrerin begleitete ihn zum Vorstellungsgespräch. Das Treffen verlief gut, er durfte ein zweiwöchiges Praktikum in der Backstube machen. Danach wurde er als Azubi eingestellt. Ein großer Erfolg für den jungen Afghanen.
"Viele der Geflüchteten sind viel motivierter als Deutsche"
Sein Vorgesetzter ist Max Soetebier. Er ist als Bäckermeister in den Familienbetrieb eingestiegen. Mit seinen 25 Jahren hat er bereits einen Meisterbrief und eine Ausbildung zum Betriebswirt in der Tasche. Er kümmert sich in der Backstube um die Auszubildenden. Über die Zusammenarbeit mit den Geflüchteten sagt er nur Positives: "Sie sind viel motivierter als Deutsche, weil sie sich eine Perspektive wünschen. Sammy ist im ersten Halbjahr seiner Ausbildung täglich bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Hin und zurück sind das mehr als 20 Kilometer", erzählt er. Und fragt: "Welcher Deutsche würde das tun?"
Soetebier ist ein Bäckermeister der fünften Generation im Familienbetrieb. Hier legt man Wert auf Qualität und Regionalität. Alle Produkte, die bei der Herstellung der Waren verarbeitet werden, stammen von Bauern aus der Region. Sein Vater, Frank Soetebier, leitet die Geschäfte. Er sitzt im ersten Stock des Gebäudes. Direkt über der Bäckerei befinden sich Aufenthalts- und Verwaltungsräume.
Seit Jahren bekommt er zu spüren, wie schwierig es ist, Auszubildende für das Bäckerhandwerk zu begeistern. Erst recht auf dem Land. "Versuchen Sie mal, im Handwerk Leute zu finden. Heute gibt es doch mehr Leute, die Architektur studieren, als Menschen, die Maurer werden wollen. Wir kommen alle aus der Generation, in der gesagt wurde: 'Meinen Kindern soll es mal besser gehen.' Da sinkt das Interesse bei den Schülern, eine Karriere im Handwerk zu machen."
Die Sätze von Soetebier senior klingen nicht vorwurfsvoll. Er beschreibt einfach nur seine Situation. Je länger man mit ihm spricht, desto klarer wird, wie groß seine Befürchtungen waren, überhaupt keinen Nachwuchs mehr zu finden. Es waren Sorgen um die Zukunft seines Betriebs – und damit auch die berufliche Zukunft seiner Kinder. Denn ein Arbeitsalltag ohne Auszubildende, ohne neue Angestellte wäre der Anfang vom Ende. "Das Handwerk boomt und es gibt Arbeit ohne Ende. Aber es sind keine Menschen da, die die Arbeit machen", sagt der erfahrene Bäcker. Er hat schon vor Schulklassen für die Ausbildung in seinem Betrieb geworben, hat verschiedene Ausstellungen besucht und veranstaltete mehrfach Führungen durch die Bäckerei. Sogar Lehrer hat er in seine Bäckerei eingeladen, "weil die alle glauben, eine Bäckerei sei ein dunkles, altes Kellerloch". Doch erfolgreich war der große Aufwand nicht. "Es ist sehr arbeitsintensiv und letztendlich kommt sehr wenig dabei raus. Jedes Jahr kamen weniger Bewerbungen."
"Mittlerweile bieten wir eine Komplettbetreuung an"
Also schlug er andere Wege ein. Soetebier ist fest verwurzelt in "seinem" Ort. Er sprach mit Vertretern der Kirche, traf ehrenamtliche Flüchtlingshelfer, arbeitete mit dem "Internationalen Café" in Winsen zusammen – und kam so auf die Idee, Geflüchteten eine Perspektive in seiner Bäckerei anzubieten. Die ersten fünf Flüchtlinge, die er als Auszubildende einstelle, sind alle wieder gegangen. "Wir haben am Anfang versucht, die Auszubildenden dazwischen zu stecken und mitlaufen zu lassen. Wir mussten lernen, dass das so nicht funktioniert", räumt Soetebier ein. Doch man habe aus den Fehlern gelernt: "Mittlerweile bieten wir eine Komplettbetreuung an." In die Bäckerei kommt zweimal pro Woche ein Lehrer, der mit den Auszubildenden Hausaufgaben und praxisbezogenen Sprachunterricht macht. "In normalen Sprachkursen lernen die Auszubildenden diese Begriffe nicht, was die Sprachbarriere sehr groß macht", sagt er, "und wenn sie die Nachhilfe nicht bekommen, kommen sie auch nicht in der Berufsschule mit".
Die Ergebnisse sind nicht zu übersehen: Die Auszubildenden bleiben. Vor einigen Jahren hatte Soetebier noch versucht, Spanier als Auszubildende zu gewinnen – ohne dauerhaften Erfolg. "Alle sind wieder zurückgegangen, weil sie hier heimatlos in irgendeinem Wohnheim saßen. Und das nur, um eine Ausbildung zu machen oder hier zu arbeiten." Bei den Geflüchteten sei das anders. "Sie können nicht nach Hause – so fies das auch klingt. Es sind wirklich hochtalentierte, fleißige und intelligente Menschen." Und im Gegensatz zu den Spaniern würden sie eine neue, dauerhafte Perspektive suchen.
Genau so ist es bei Abraham Simon Derar und Semiallah Mohammadi. "Ich vermisse die Heimat. Aber ich weiß, dass meine Zukunft hier ist. Ich möchte in Deutschland bleiben", sagt Derar. Bei Mohammadi ist das ähnlich: "Ich fühle mich mehr und mehr heimisch, habe Freunde gefunden." Um den Integrationsprozess voranzutreiben, gibt sich die Familie Soetebier große Mühe, für ihre Mitarbeiter eine Wohnung im Ort zu finden. Einige Mietverträge laufen deshalb auch auf den Namen der Firma. Dann seien die Vermieter eher bereit, Geflüchteten ein Zuhause zu bieten.
Auch "Sammy" wohnt mittlerweile ganz in der Nähe. Die Zeiten, in denen er bei Regen und Sturm 20 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren musste, sind glücklicherweise vorbei. Er ist hier, in einem kleinen Ort im Norden Deutschlands. Endlich angekommen.
