Nicht erst seit ChatGPT im letzten Herbst für Furore sorgte, gibt es Sorgen unter den Arbeitnehmern. Die Arbeitswelt verändert sich durch die Automatisierung zunehmend, viele Arbeitnehmer müssen sich umorientieren. Doch die Revolution bietet auch ungeahnte Chancen. Einige Angestellte haben diese genutzt, um sich selbst einen Haufen Arbeit abzunehmen. Und sich in der eingesparten Zeit ein zusätzliches Einkommen organisiert.
Das dokumentiert ein großes Stück des US-Portals "Vice". In den USA und Kanada haben sich demnach zahlreiche Angestellte unter dem Motto "overemployed" zusammengefunden. Sie alle eint eine Idee: Wenn man sich im Homeoffice selbst organisieren kann, schafft man es unter Umständen auch, gleich mehrere Jobs zu wuppen. Der stern hatte über das Phänomen bereits berichtet. Mit Programmen wie ChatGPT wird es allerdings in völlig neue Sphären katapultiert.
Der fünfte Job wäre zu viel
So soll ein Mitarbeiter eines Tech-Unternehmens nicht nur zwei sondern gleich vier Vollzeit-Anstellungen gleichzeitig jonglieren. Die Hauptarbeit übernimmt dabei die künstliche Intelligenz. Noch mehr will sich der anonyme Arbeiter dann aber doch nicht zumuten. "Fünf wären wahrscheinlich dann doch zu viel", gestand er gegenüber "Vice".
Er ist zwar ein Extremfall, alleine ist er aber nicht. Auch ein Marketing-Mitarbeiter, den "Vice" nur Ben nennt, hat sich Anfang des Jahres entschieden, sich eine zweite Stelle zu suchen. Zwar habe er schon vorher von Menschen in seinem Umfeld gewusst, dass die heimlich einen zweiten Vollzeitjob nachgingen. Seine Arbeit habe das aber schlicht nicht zugelassen, erklärt er. Bis ChatGPT im Herbst der Öffentlichkeit zugänglich wurde.
Sein eigentlich sehr zeitaufwendiger Job – Ben muss Konzepte entwickeln, Storyboards schreiben und Präsentationen gestalten – sei durch die Künstliche Intelligenz plötzlich zum Kinderspiel geworden. "Es war nicht ein bisschen einfacher. Es war viel einfacher", sagte er der Plattform. Selbst als er sich Anfang des Jahres entschied, sich auf eine zweite Stelle zu bewerben, habe der Chatbot die Bewerbung verfasst.
Hilfreiche Tipps, wie man ChatGPT ohne Vorkenntnisse sinnvoll nutzen kann

Berechtigte Angst
Die Angst, von Künstlicher Intelligenz im Job ersetzt zu werden, dürften solche Berichte nicht gerade mindern. Tatsächlich könnten laut einer Studie der Großbank Goldman Sachs 300 Millionen Menschen in den USA und Europa durch die Technologie ihren Job verlieren. Trotzdem bewertet die Bank die Entwicklung insgesamt positiv, weil durch KI auch neue Berufsfelder entstehen dürften. Wie seriös diese Schätzungen sind, ist schwer zu bewerten. "Ich bin nur sicher, dass niemand sagen kann, wie viele Jobs tatsächlich durch generative KI ersetzt werden wird", sagte der für Zukunftsforschung zuständige Carl Benedikt Frey von der Universität Oxford der "BBC".
Anders als bei der Automatisierung der Fertigung beträfe die aktuelle Entwicklung aber in erster Linie Büro-Jobs wie Anwälte und Journalisten, so Goldman Sachs. Im Baugewerbe und der Wartung läge die Quote mit knapp 5 Prozent betroffenen Berufen deutlich niedriger.
Automatisierter Chat mit dem Chef
Ben kann sich durch KI ebenfalls nicht komplett ersetzen. Aber eben einen großen Teil der Arbeit von ihr erledigen lassen. "Ich kann es auffordern, eine Geschichte zu schreiben", führt er aus. "Und basierend auf meinen Anforderungen tut es das dann." Am Ende blieben nur noch Korrekturen und Feinschliff zu erledigen. "Manchmal macht es etwas falsch. Aber das ist ja normal", findet er.
Sogar den Chat mit seinem Chef übernimmt der Bot gelegentlich. Damit der das nicht merkt, fordert er den Bot lieber auf, auf Großschrift zu verzichten. Damit es natürlicher wirkt, verrät Ben. "Um ehrlich zu sein: ChatGPT macht etwa 80 Prozent meiner Arbeit."
Ist KI-Nutzung ein Plagiat?
Auch Akademiker haben die Stärken des Bots erkannt. Marshall unterrichtet an einer Universität in Großbritannien – und betreibt nebenbei eine Marketing-Agentur und ein Tech-Start-up. Wenn seine Studenten im Unterricht Aufgaben bearbeiten, klappt er seinen Laptop auf. Und lässt die KI ans Werk gehen, erzählt er. "Ich bin eher ein Konzept-Typ. Das darf also gerne mein Hirn übernehmen. Aber der erste Entwurf geht dann immer durch ChatGPT."
Dank des Programms hat er nicht nur Businesspläne und Blogposts verfasst. Sondern auch Dokumente, bei denen der Einsatz von KI bisher durchaus noch als fragwürdig bewertet werden dürfte. So ließ Marshall einen Teil seiner Prüfungsaufgaben für die Bewerbung als Lehrkraft verfassen. Und auch die Bewerbung auf ein Stipendium habe er sich "50-50" mit der KI geteilt, gesteht er. Befürchtungen, ChatGPT würde helfen bei Prüfungen zu bestehen, betreffen also nicht nur Schüler und Studenten. Sondern auch deren Lehrkräfte .

Das Ziel: gar nicht arbeiten
Charles hat ebenfalls mehr als einen Job – und das schon seit 2020. Noch beeindruckender ist das, wenn man weiß, dass er für eine "FAANG"-Firma arbeitet. So nennt man im Silicon Valley die fünf ganz Großen: Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google. Seit dem Erscheinen von ChatGPT ist die Koordination seiner Top-Jobs allerdings noch leichter geworden, sagt er "Vice".
So nutzt er den Bot etwa, um Entscheidungen gegenüber Vorgesetzten zu rechtfertigen. Auch Erklärungen für andere Entwickler lässt er von der KI verfassen. "Sie kann einem einen Satz in einen ganzen Absatz aufblasen", freut er sich. Selbst die Grundlagen für seine Software-Projekte lässt er mittlerweile von dem Programm erledigen. Oft laufe der Programmcode bereits beim ersten Versuch fehlerfrei, die meist nötigen kleinen Nachjustierungen seien allerdings auch kein Problem.
Für Charles ist es mit der automatisierten Unterstützung noch nicht getan. Er arbeite daran, auch seine Stimme und sein Gesicht in Videocalls perfekt vortäuschen zu können, gesteht er. Sein Ziel: Den Job soweit durchautomatisieren, dass ein Hilfsarbeiter in Indien "ihn für mich machen kann." Am Ende soll das Geld aber vor allem einen Traum erfüllen: Charles will mit 35 Jahren in Rente gehen. Mit zehn Millionen Dollar auf dem Konto. Die ersten drei hat er schon gespart.