Stehvermögen ist wichtig für Erwin. Denn manchmal muss er seine Kunden erst unter den Tisch trinken, bis sie endlich den Kaufvertrag unterschreiben. Dann sind sie mitunter so voll, dass sie auf der eigenen Wohnzimmercouch mit einem Modell des Fensters sitzen, da mit glasigem Lächeln durchgucken und sich dabei von Erwin fotografieren lassen. Erwin platzt fast vor Lachen, wenn er solche Geschichten zum Besten gibt.
Ob das mit dem Auftrag so seine Richtigkeit hat und ob auch sonst alles stimmt, ist Erwin scheißegal. Hauptsache, er hat seine Provision in der Tasche. Und ab zum Nächsten. So läuft es eben in der Branche. Und tu ich’s nicht, sagt Erwin, tut es eben ein anderer. Schampus, Lokalrunde. Als die Mauer fiel, da war es der Wahnsinn. Lauter Ossis, die keine Ahnung von irgendetwas hatten. Und Erwin mittendrin, an manchen Tagen mit zehn Riesen in der Tasche. Netto. Heute ist es nicht mehr ganz so easy, sagt Erwin. Gut, dass wenigstens die Russlanddeutschen bauen wie verrückt und Fenster brauchen. Und Verträge nicht ganz so gut verstehen. Aber bezahlen, sagt Erwin, dreht den Handrücken zum Mund und rülpst mehr oder weniger dezent in seinen goldprotzenden Chronometer.
Thomas Hirschbiegel
Kolumnist für stern.de seit 1997 - und das H der H&A medien: Redaktion, Public Relations und Online-Konzepte.
Fast wie im Web
Beratung, sagt Erwin, gibt’s bei ihm nicht. Entweder Unterschrift oder eben nicht. Fast wie im Web, denn dort genießt Beratung einen ähnlichen Stellenwert. Finanzdienstleister lassen angeblich jede dritte Kundenanfrage unbeantwortet. Und falls doch, sei die die Qualität der E-Mail-Antworten oftmals unter aller Sau. Aber wo sollen sie es auch gelernt haben, die Männer und Frauen von der Bank? Seit Pisa weiß man auch hierzulande, dass Deutschland nur top, wo doof.
Erwin könnte jederzeit bei einer Bank arbeiten, würde er sich das Berülpsen des Chronometers für die Zeit nach Feierabend aufsparen. Für eins, zwei oder mehrere Versicherungen war er tätig. Früher. Als "freier Handelsvertreter". War auch nicht schlecht, sagt Erwin, Versicherungen verkloppt an die ganze Familie und Bekannte. Freunde nicht. Die gibt es nämlich nicht für einen wie Erwin. Lokalrunde.