Onlineliteratur Roman à la Karte

Von Daniel Mollitor
Verlieren Sie bei komplexen Romanhandlungen gern mal den Überblick? Das Onlinebuch "Senghor on the Rocks" von Christoph Benda führt dank Google Maps mit animierten Satellitenbildern durch die Geschichte.

Komplizierte Verfolgungsjagden durch mehrere Stadtviertel, Abkürzung links, Abzweigung rechts, unter der Brücke durch und hinter der Imbissbude die Böschung runter - mitunter flitzen Romanfiguren so schnell durch ihre fiktive Welt, dass einem als Leser ganz schwindelig werden kann.

Zum Glück gibt es jetzt das erste Buch mit Navigationssystem: Der Roman "Senghor on the Rocks" ist im Internet veröffentlicht und wie ein Buch gelayoutet. Wer die Geschichte auf der Site www.senghorontherocks.net liest, findet zu jeder Seite Handlung eine Satellitenkarte der vorkommenden Orte. Parallel zu jeder Szene kann der Leser nachvollziehen, wohin sich die handelnden Personen gerade bewegen. Autor Christoph Benda, Programmierer Florian Ledermann und Grafikdesigner Johannes Krtek haben dazu sämtliche Spielplätze mittels Geotagging auf einer digitalen Landkarte von Google Maps markiert.

Der virtuelle Roman ist kostenlos im Internet abrufbar und lässt sich mit allen gängigen Browsern und auch mit dem iPhone abrufen. Diese Idee eine Revolution zu nennen, ist vielleicht übertrieben. Aber sie ist ein innovativer Gedanke und führt die Medien Print und Online einen großen Schritt aufeinander zu - mit einem Konzept, das vor allem für moderne Reiseführer interessant sein dürfte.

Der Held ist dauernd unterwegs

Die Kartenunterstützung ist jedoch auch in "Senghor on the Rocks" durchaus sinnvoll, denn Martin "Chi" Tschirner, der Protagonist der Geschichte, ist dauernd unterwegs. Er hat als Kameraassistent bei einem Promotiondreh in Dakar angeheuert und hetzt schon im ersten Teil des Romans mit seinem kleinen Filmteam rastlos durch eine laute, chaotische Stadt. "Der Realismus des Romans gewinnt durch die zusätzliche Karte. Der Leser gewinnt über die visuelle Ebene einen völlig neuen Zugang zum Text", sagt Autor Benda. Er kennt den Handlungsort, das senegalesische Dakar, von eigenen Reisen. Als er die Geschichte schrieb, musste er allerdings noch auf eine herkömmliche Landkarte zurückgreifen.

Chis Reisen lassen sich dagegen bequem digital nachvollziehen. Sobald er sich im Text fortbewegt, wird seine Position mit einem Pfeil angezeigt, der die zurückgelegte Strecke nachfährt - mit ausreichend Details, um dem Leser die fremden Orte näherzubringen, andererseits abstrakt genug, um den Leser nicht von der eigentlichen Handlung abzulenken. Das interaktive Lesen limitiert allerdings die kreative Freiheit des Autors: "Die Story braucht eine lineare Chronologie. Vor- und Rückblenden funktionieren nicht, und auch Multiperspektiven sind schwierig", sagt Benda. Der positionsanzeigende Pfeil würde bei solchen literarischen Kunstgriffen wie wild über die Landkarte hüpfen.

Sprachlich und erzählerisch ist "Senghor on the Rocks" nicht sehr anspruchsvoll: Die Geschichte wird durchgängig aus der Sicht des Helden Chi erzählt, es gibt keine übergeordnete, kommentierende Instanz, die zwischen den widersprüchlichen Normalitäten der westlichen Welt und des afrikanischen Lebens vermitteln würde, die er auf seiner Reise erlebt.

Form interessanter als Inhalt

Spannender als sein Inhalt ist darum die Form des Naviromans, die sich auch in anderen Büchergenres einsetzen ließe. In Geschichtsbüchern könnten Feldzüge anschaulicher dargestellt werden - und dem modernen Städtereisenden bliebe mit einem solchen Reiseführer das Herumirren im Gassenwirrwarr erspart.

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