Liebe stern-Leser!
Ich kann mich an keine Wahl erinnern, bei der es bis zuletzt so viele Unentschlossene gab. Und so viele, die sich nur mit Bauchschmerzen entschieden haben. Selten war es auch so knapp: Rot-Grün und Schwarz-Gelb liegen Kopf an Kopf. Alles scheint möglich, auch eine große Koalition oder die Wiederauflage von Sozialliberal. Die Qual der Wahl ist eine Wahl der Qual: Schröder oder Stoiber? Keiner von beiden konnte richtig begeistern, von Euphorie wie vor vier Jahren ist nichts zu spüren. Der über lange Zeit glücklose Kanzler hat erst durch seinen beherzten Fluteinsatz, das zweite TV-Duell und seine gewagte Irak-Politik viele enttäuschte und verunsicherte Wähler von 1998 wieder mobilisiert. Doch was hat ihnen die SPD programmatisch zu bieten? Die Vorschläge der Hartz-Kommission zum Arbeitsmarkt, eine nebulös gehaltene Gesundheitsreform, bessere Kinderbetreuung. Das reicht nicht für vier Jahre. Und auch nicht für das Land. Der Herausforderer Edmund Stoiber hat weit mehr auf dem Programm-Zettel. Aber er hat es nicht fertig gebracht, das dem Wähler auch zu vermitteln. Stattdessen hat er das Publikum am Ende gelangweilt, weil er jedes Gespräch, egal zu welchem Thema, auf die vier Millionen Arbeitslosen zu lenken versuchte. Und eine Kernfrage ließ er unbeantwortet: Wie will die Union bei anhaltend schwacher Konjunktur ihre verlockenden Steuersenkungen finanzieren? Wachstum um den Preis gigantischer Haushaltsdefizite? Eine ehrliche Antwort steht aus. Auch wirkt der als „echt und kantig“ gestartete Kandidat mittlerweile seltsam unecht und weich gespült. Das Thema Zuwanderung, mit dem er jetzt sein Profil wieder schärfen wollte, zieht nicht mehr. Es ist für die Menschen abgehakt, seit Bundespräsident Johannes Rau das umstrittene rot-grüne Gesetz unterschrieben hat.
Die Wähler haben andere Sorgen. Zum Beispiel einen neuen Irak-Krieg und die verheerenden Folgen, die er haben könnte. Schröder sagt klipp und klar nein zu einer deutschen Beteiligung, obwohl er damit riskiert, international ins Abseits zu geraten. Auch Stoiber beteuert, er wolle keine deutschen Truppen in den Irak schicken, fügt aber hinzu, dass wir im Falle eines UN-Mandats wohl nicht umhinkämen, einen Militärschlag zu unterstützen. Der Trend in den Umfragen spricht dafür, dass Schröder mit diesem Thema die Wahl für sich entscheiden könnte, weil er die Emotionen der Wähler bis tief hinein ins konservative Lager getroffen hat. Ein solcher Sieg aber würde uns der Lösung unserer eigentlichen Probleme keinen Schritt näher bringen. Denn Deutschland, so viel steht fest, braucht kein „Weiter so“, sondern eine reformerische Runderneuerung. Mit neuer Kompetenz, neuen Köpfen mindestens in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit. Sollte sich also schon nicht die Farbe der Regierung ändern, dann, Herr Bundeskanzler, bitte nicht weiter nach dem Motto: „Never change a winning team“.
Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn