Editorial Vom harten Schicksal, ein Sozialdemokrat zu sein

Liebe stern-Leser!

Die SPD braucht einen Kurt Obama, einen Vorsitzenden mit dem Charisma des demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten. Sie braucht eine Führungsfigur, die mit kontrolliert gesendeten Emotionen inspirieren und überzeugen kann. Einen talentierten Verkäufer, der den SPD-Themen Bedeutung verleiht. Doch es gibt keinen. Wenn Kurt Beck beispielsweise über den Mindestlohn referiert - durchaus ein relevantes Thema -, hört kaum jemand zu, weil ihm Charisma fehlt. Das Problem ist, dass sich der Chef aus der Pfalz nicht "verbiegen lassen" will, dass er "authentisch" bleiben möchte. Anders gesagt: Er will nicht dazulernen. Schon deshalb fällt er als Kanzlerkandidat aus. Die Sozialdemokraten spüren dieses Dilemma und wundern sich nicht darüber, dass die SPD im Sinkflug ist. Die Erkenntnis, dass es derzeit niemanden gibt, der die ehemals glorreiche Volkspartei retten kann, verstärkt bei vielen Mitgliedern den Frust und den Gedanken an Flucht: In einer Umfrage für den stern gaben mehr als ein Drittel der befragten Sozialdemokraten an, dass sie über einen Parteiaustritt nachdenken. Das liegt jedoch nicht allein am Vorsitzenden, sondern auch an der unklaren politischen Linie - wie links will die SPD eigentlich sein? Hinzu kommt der Flurschaden, den das Spitzenpersonal der vergangenen Jahre hinterlassen hat: Die Schamlosigkeit, mit der SPD-Größen ihre Regierungsarbeit ausgenutzt haben, um später in der Privatwirtschaft Kasse zu machen (Schröder, Clement, Müller ...), hat viele Parteiarbeiter an der Basis erschüttert. Bei ihnen kommt an: Schröder & Co. haben die soziale Bewegung zur persönlichen Bereicherung genutzt, und das zerstört die Glaubwürdigkeit der Partei, die einst als Schutzmacht des kleinen Mannes galt. Die Frage nach einem Ausweg aus der Krise zerfällt in zwei Fragen: Wer rettet uns? Und mit welchem Kurs? Der stern hat dazu Antworten eingeholt - nicht nur von Politikern, sondern auch von Schauspielern, Sportlern und unabhängigen Geistesgrößen (Seite 36). stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges analysiert dazu den Niedergang der SPD und mahnt, dass die Sozialdemokratie für Deutschland überlebenswichtig ist (Seite 30).

Auf der anderen Seite des Atlantiks setzt Barack Obama auf sein Charisma - ununterbrochen und fast ausschließlich. Ihm fehlen allerdings noch die großen Wahlkampfthemen. Bislang genügt seinen Anhängern die "Wir sind ein Volk"-Rhetorik. George W. Bush hat das Land tief gespalten. Obama, der schwarze Hawaiianer aus Chicago, will wieder ein einiges Amerika, das Schwarze, Weiße, Hispanics, Reiche, Arme, Demokraten und Republikaner, Gläubige aus dem Bibel-Gürtel und Atheisten von der Ostküste gemeinsam tragen. Diese Botschaft peitscht er mit einem simplen "Yes, we can" in die Köpfe und hinterlässt allein damit das Gefühl: "Yes, he can." Auch Martin Luther King III., Sohn des berühmten amerikanischen Bürgerrechtlers, bescheinigt Obama im Gespräch mit stern-Korrespondent Jan Christoph Wiechmann, dass der Kandidat "viele junge Menschen für Politik begeistert" (Seite 48). Allerdings mahnt er: "Mr. Obama muss viele Leute zufriedenstellen." Und es allen recht machen zu wollen ist bestenfalls eine Taktik, aber kein politisches Programm. Darauf wartet die Welt noch.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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