Zugegeben: die Vernunft blieb draußen. jede kritische Distanz ging verloren, aber ein pures Tölpelspiel war es nicht, wie die "Hitler-Tagebücher" dem STERN zugespielt wurden. Es war ein „Psycho-Krimi" von suggestiver Raffinesse. der sich erst im nachhinein als Posse darstellt. Und wer immer von uns eine Rolle dabei spielte, macht keine gute Figur.
Wir alle haben uns täuschen lassen: der Verlagsvorstand. die Chefredakteure, ich als Herausgeber des STERN und die beiden Kollegen Dr. Walde und Leo Pesch. Vor allen anderen der Reporter Gerd Heidemann. dessen Tüchtigkeit uns immer wieder imponiert hatte, und dessen Rolle bis zu dieser Stunde nicht restlos geklärt ist, es scheint, als sei er am Ende der betrogene Betrüger geworden; man wird es wohl erst wissen, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen abgeschlossen hat.
Nur die STERN-Redaktion hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Sie war bis zum Beginn der Veröffentlichungen nicht einmal informiert. Informantenschutz und strengste Geheimhaltung waren oberstes Gebot, und es ist sehr wohl möglich, daß es diese Bunkermentalität war. die unsere Kritikfähigkeit beeinträchtigt hat.
Nun herrscht Hochkonjunktur für die Scheinheiligen, die alles schon vorher gewußt haben, und denen eine solche Affäre nie passiert wäre. Aber auch sie machen. sieht man genau hin, keine gute Figur.
Das beginnt mit dem Präsidenten des Koblenzer Bundesarchivs. Professor Hans Booms. der die _Tagebücher" angeblich in drei Tagen entlarvte und dann den STERN wegen der plumpen Primitivität dieser Fälschung" mit Hohn und Spott übergoß.
Hatte denn nicht der Präsident Professor Booms im Namen des Bundesinnenministers, und dieser im Namen der Bundesrepublik Deutschland schon am 8. April 1983 einen schriftlichen Vertrag mit dem Reporter Gerd Heidemann abgeschlossen, der Heidemann das alleinige Recht der „publizistischen Verwertung" an den „unveröffentlichte(n) handschriftliche(n) und maschinengeschriebene(n) Unterlagen Adolf Hitlers" genehmigte?
Wörtlich im Vertrag: "Es wird sich dabei zum überwiegenden Teil handeln um Unterlagen politischen und historisch bedeutsamen Inhalts. Ein Teil dieser Unterlagen ist von Gerd Heidemann mit erheblichen Fremdmitteln bereits angekauft worden." Bis zum Ablauf einer Sperrfrist von zehn Jahren übertrug das Bundesarchiv dem Vertragspartner Heidemann die Verwertungsrechte dieser schon im Besitz Heidemanns oder seines Kreditgebers befindlichen Hitler-Originale. Als Gegenleistung sollten die Dokumente dann in Booms' Archiv überwechseln.
Vertragspartner also die Bundesrepublik Deutschland und der Reporter Gerd Heidemann - befanden wir uns in so schlechter Gesellschaft?
Bis zum 29. April stand der Bundesrepublik ein Rücktrittsrecht an diesen Vertrag offen. Aber der im Auftrag des Präsidenten schon am 14. April damit befaßte Archivdirektor Dr. Oldenhage korrigierte nur das Rubrum des Vertrags: es mußte „Bundesminister des Inneren" heißen und nicht "Bundesinnenminister". Und dann dankte der Präsident des Bundesarchivs dem Anwalt des STERN "und allen dort beteiligten Herren für das Verständnis, das Sie archivfachlichen Belangen gegenüber gezeigt haben".
Sorglosigkeit? Fahrlässigkeit einer Behörde, die Fälschungen angeblich innerhalb drei Tagen aufklären kann?
War am Ende auch die "Süddeutsche Zeitung- gefälscht, die noch am 27. April unter der Schlagzeile "Bundesarchiv hat keine Zweifel" eine Reuter-Meldung verbreitete: "Das Bundesarchiv in Koblenz hat nach den Worten seines Präsidenten keinen Zweifel an der Echtheit der ihm vorn Magazin STERN zur Prüfung vorgelegten mutmaßlichen Dokumente Adolf Hitlers ... Bei dem Schriftstück aus den Tagebüchern habe es sich um den Entwurf einer parteiamtlichen Verlautbarung zur Flucht von Heß nach Großbritannien gehandelt."
Ist der Brief des amerikanischen stellvertretenden Chefanklägers im Nürnberger Prozeß und heutigen Anwalts Dr. Kempner gefälscht. der am 25. 4. 1983 an den "lieben Herrn Heidemann" schrieb: „Mit großem Interesse verfolge ich die Hitler-Aufzeichnungen. Daß Heß mit Hitlers Wissen nach England flog, habe ich seit dem Jahre 1947 gewußt ... Ich glaube. ich hatte Sie bei Ihrem Besuch vor ca. 1 1/2 Jahren schon darauf aufmerksam gemacht. Mit den besten Wünschen Robert M. W. Kempner."
Der STERN in schlechter Gesellschaft? Doch wohl nicht.
Drei Schriftsachverständige von internationalem Ruf hatten dem STERN bestätigt. daß niemand anders als Adolf Hitler die den Prüfern übergebene Seite aus einem der Tagebücher geschrieben habe. Und wenn sich das Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz heute von der Mitverantwortung drückt, weil es "nie Hitler-Tagebücher geprüft" habe, so ist die Erklärung höchst einfach: keinem der Sachverständigen war gesagt worden. um was für ein Dokument es sich hei der vom STERN überreichten Schriftseite handelt. Die Frage lautete nur: Ist das die Schrift Adolf Hitlers? Alle Gutachten fielen positiv aus. Vom eindeutigen Ja" bis zum "Es spricht nichts dagegen". Und alle Sachverständigen hatten als Vergleichsmaterial fünf unzweifelhaft echte Handschriften Hitlers aus dem Bundesarchiv in Koblenz auf dem Tisch.
Rechtfertigt das unsere Veröffentlichung? Natürlich nicht. Und schon gar nicht entschuldigt es den Mangel an politischer Sensibilität, mit der die erste Folge der „Tagebücher" präsentiert wurde, das großmäulige Wort vorn „Umschreiben der Geschichte". das man von dem britischen Historiker Trevor Roper übernahm.
Aber wir alle, Amerikaner, Engländer, Franzosen — wir standen unter dem Bann der Echtheit eines "historischen Dokuments". Niemand zweifelte mehr daran, selbst die Papierproben aus dem Heß-Band bezeichnete der öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige für Papieruntersuchungen Dr. Arnold Rentz am 21.4.1983 als _Blätter, die vor oder während des II. Weltkrieges gefertigt wurden".
Reichten diese Prüfungen aus? Will ich den größten Flop der deutschen Pressegeschichte damit begründen? Nein, als kritische Journalisten hätten wir mehr tun müssen und dies hätten wir früher erkennen sollen. Pardon wird dafür nicht gegeben.
Und daß wir zu drucken begannen, ohne Heidemanns Quelle genau zu kennen, ist vollends Unverzeihlich. Auch wenn der Reporter dafür eine nahtlose Legende erfunden hat, die uns plausibel erschien.
War der Mittelsmann in der Bundesrepublik, der Gerd Heidemann die "Tagebücher" lieferte, wirklich der Bruder eines korrupten Volksarmee-Generals der DDR. der den Börnersdorfer "Fund" gehütet hatte und ihn nun verkaufen wollte — hätten wir diesen Mann dem Staatssicherheitsdienst ans Messer liefern dürfen? Heidemann weigerte sich jedenfalls, die Identität seines Lieferanten preiszugeben, er bot die Auflösung seines Vertrages an. schwor beim Leben seiner Kinder, daß er den Mann kenne und daß der Weg der Tagebücher vorn (übrigens unbestrittenen) Absturz der "Führermaschine" hei Bärnersdorf bis in seine Hand keine Lücke aufweise. Wir fielen darauf herein.
Als Heidemann — zu spät — unter dem Eindruck der schon hereingebrochenen Katastrophe schließlich den Namen des Volksarmee-Generals Fischer nannte. entpuppte sich der als ein Gepäckträger in Käthen, und dessen Bruder Fischer alias Konrad Kujau wurde als ein Militaria-Höker bei Stuttgart entlarvt.
Auf die Tragödie war prompt das Satyrspiel gefolgt.
Und die Historiker? Auch unter ihnen machte nicht jeder eine gute Figur. Respekt vor dem Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Professor Martin Broszat. Als er den Rat gab, ein internationales Gremium von Historikern einzuberufen, war es freilich zu spät. Auch wir hatten diese Idee schon vor der Veröffentlichung erwogen, wir hatten sie verworfen, weil die Exklusivität für den STERN und seine internationalen Verhandlungspartner „Newsweek", "Sunday Times" und "Paris-Match" nicht mehr gesichert gewesen wäre.
"Hitler-Forscher" Professor Werner Maser, mit Heidemann auf du und du. ist wohl nur noch für den "Spiegel" eine Autorität. Als er uns anbot, eine Fälscherwerkstatt bei Potsdam aufzudecken (er verfüge über alle Einzelheiten, sagte er mir), blieb er trotz des zugesagten Honorars von einer halben Million Mark jeden Beweis schuldig. Diese Geschichte, hätte Maser sie anbringen können, wäre ihr Geld weiß Gott wert gewesen.
Der britische Hitler-Biograph Hugh Trevor-Roper - heute Lord Dacre of Glanton - prüfte die Tagebücher in Zürich und trat im ZDF als Kronzeuge für ihre Echtheit auf. Am letzten Sonntag entschuldigte er sich in der "Sunday Times", er habe nur zwei Stunden zur Prüfung Zeit gehabt. Wer beschnitt ihm denn die Zeit? Wir jedenfalls nicht. Von uns aus hätte er tagelang prüfen können. Aber ach, der britische Hitler-Lord spricht kaum ein Wort Deutsch.
Und die Journalisten. die den Stoff kannten? Will einer wirklich behaupten, die großen englischen, amerikanischen. französischen und italienischen Blätter wären bereit gewesen, einer "Verharmlosung Hitlers" das Wort zu reden? Sie hielten wie wir die "Tagebücher" für ein "Dokument von höchstem zeitgeschichtlichen Interesse" ("Sunday Times") und begannen zu drucken — wie wir.
Respekt vor meinem Freund Rudolf Augstein, der mich im letzten „Spiegel` prügelt, weil ich die Prüfung und die Entscheidung den Chefredakteuren des STERN Peter Koch und Felix Schmidt überließ, die das Material länger kannten als ich. Daß ich ihnen und den beiden Redakteuren Dr. Thomas Walde und Leo Pesch vertraute und nicht selbst in alle Details einstieg — mea culpa, mea maxima culpa.
Der Öffentlichkeit habe ich lückenlose Aufklärung versprochen. Der gesamten Öffentlichkeit und nicht nur den STERN-Lesern. Wir wollen nicht in den Verdacht kommen, der STERN wolle nun mit der "Geschichte der Fälschung" sein Geschäft machen. Was Sie auf Seite 20 lesen, mag Ihnen in Teilen bekannt sein. Noch hat die Geschichte Lücken, jeden Tag können sich diese Lücken schließen, jeden Tag können neue Ergebnisse hinzukommen. Die STERN-Redakteure Michael Seufert und Jürgen Steinhoff schreiben nur das, was der STERN bis zum Sonntag, den 15. Mai 1983, 14 Uhr, recherchiert hat.
Die Geschichte ist wahrhaftig nicht ohne peinliche Komik. Sie ist eine harte Geschichte im doppelten Sinne. Hart in der Substanz und schonungslos für die Beteiligten. Wir werden weiter zur Aufklärung beitragen. Das letzte Wort hat in diesem Fall der Staatsanwalt, das Urteil liegt dann bei Ihnen, den Lesern des STERN.
Herzlich Ihr
HENRI NANNEN
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