Schon im Sandkasten zeigt sich der tiefe Graben zwischen Europa und Asien, zwischen Jesus und Konfuzius. Im Hof des Drachengartens, unserer 14-stöckigen Plattenbausiedlung, rümpfen chinesische Eltern über meine Söhne Moritz, 4, und Max, 2, gern die Nase. Sie dürfen auf Bäume klettern und beim Herumtollen die Kleider schmutzig machen. Wenn sie mit anderen Kindern streiten, greife ich erst ein, wenn Blut zu fließen droht. Chinesen halten mich deshalb für einen Rabenvater. Dabei will ich meine Jungs nur zur Selbstständigkeit erziehen. Den chinesischen Eltern aber geht Wohlverhalten über alles. "Der Nagel, der hervorsteht, muss eingehämmert werden", sagt ein Sprichwort. Im Westen zählt der Einzelne, in Asien die Gruppe.
Schon einige Male habe ich in China zu hören bekommen, dass Ausländer ihre Kinder nicht lieben. Da ist was dran, würde mein Ältester sagen. Bei einem Besuch in Deutschland setzte sich Moritz auf einem Rheindampfer erwartungsvoll neben ein Ehepaar, das Pommes frites mampfte. Die beiden ignorierten ihn. In Peking undenkbar. Dort hätte er nicht nur ein Gespräch, sondern auch die halbe Tüte Pommes bekommen. Im Reich der Mitte sind die Kinder nicht nur Könige, sondern "xiao huangdi", kleine Kaiser: willkommen, auch mit gerade zwei Jahren in einem Restaurant, und ebenso verhätschelt und verwöhnt.
Denn als Folge der Ein-Kind-Politik stürzen sich in den Städten gleich sechs Erwachsene auf einen Nachkömmling: Mama, Papa, zwei Opas und zwei Omas. Der Wettbewerb um Schul- und Uniplätze ist gnadenlos, der Druck, den Familien auf Kinder ausüben, oft brutal. Tan Bo, ein Freund von Moritz, hat einen Arbeitstag so lang wie der seiner Eltern: sechs Uhr aufstehen, bis fünf Kindergarten mit Englischunterricht. Danach dreimal in der Woche Klavier, samstags Fußball, am Sonntag Englischnachhilfe und Kung-Fu. Der arme Kerl ist drei. Die Mutter wundert sich, warum er nachts schlecht schläft.
Weil sie ständig büffeln, tragen viele Stadtkinder Brillen, manche setzten Fett an wie Sumoringer. Die Zahl der Schüler-Selbstmorde steigt, eine 16-Jährige forderte in einem wütenden Leserbrief: "Gebt uns unsere Kindheit zurück!"
In Deutschland wurde der Bildungsnotstand ausgerufen, weil wir bei Pisa und anderen Studien hinter Chinesen, Japanern und Koreaner liegen. Aus Peking sage ich allen besorgten Eltern: Seid stolz darauf - außer, ihr wollt Maschinen als Kinder.