Es ist nun zehn Tage her, dass die Wombi kam, um zu bleiben. Im elterlichen Nest hat sie ihren Platz wieder eingenommen, als wäre sie nie weg gewesen, und so trotzt sie Corona von ihrem Jugendzimmer aus mit wechselnden Gefühlsausbrüchen. Anfangs überwog die Fassungslosigkeit darüber, dass die Aufforderung der Regierung, zuhause zu bleiben und niemanden zu treffen, keine Anregung und auch keine gutgemeinte Empfehlung war. Nicht einmal Netflix konnte die Untröstlichkeit, die sich auf das Gemüt der Wombi legte, mildern. Freizeit-Fadesse stellte sich nach und nach ein. Während die Wombi ihre Arbeiten für die Schule erledigte, war sie die Hälfte der Zeit damit beschäftigt, sich parallel zum Lernen aufzuregen. "Zu viel", "Zu schwer", "Unlogisch", "Nicht lösbar." Über ihrem Kopf hing eine grüne Unmutswolke, die sich erst auflöste, wenn die Wombi beschloss, "für heute" Schluss zu machen. Schließlich, so ihr Argument, seien auch die Kinder, zu denen sie sich in der Isolation wieder zählte, in einer emotionalen Ausnahmesituation und man könne nicht verlangen, dass alles Schulische so weitergehe wie bisher. Als ob das irgendjemand erwartet hätte.
Ab dem Zeitpunkt "Schluss für heute" kommt die Wombi auf seltsame Ideen. "Mir ist so fad", klagte sie gegen Ende der ersten Woche. "Ich glaube, (tiefer Seufzer), ich fange jetzt an ein Buch zu lesen." Es schwang so viel Selbstmitleid in dieser Ankündigung. Wie weit war es mit der Wombi gekommen? Ein Buch? Wir, der Olaf und ich, machten uns Sorgen. "Warten wir es ab", sagte ich zu ihm, "sie wird es sicher nur anfangen." Falsch. Die Wombi las regelmäßig.
"Kann ich mein Zimmer neu ausmalen?", fragte sie eines Abends. "Äh", antwortete der Olaf, "falls du einen Supermarkt findest, der Wandfarbe und Malerzubehör verkauft, gerne." Die Wombi fand das skandalös, dass wir "sowas" nicht lagernd hatten. Jeder gut sortierte Haushalt sollte Wandfarbe führen.
"Was passt dir denn nicht an deiner Farbe?", fragte ich. Wombis Zimmer ist weiß. Nur die Wand hinter dem Schreibtisch ließ ich vor sechs Jahre blassrosa streichen. Man musste schon sehr genau hinschauen, um den Farbton überhaupt zu erkennen. "Ich habe mich eben weiterentwickelt", antwortete die Wombi. "Wenn du die Wand neu streichen willst, vorausgesetzt du bekommst das Material, musst du alle Regale austräumen und abkleben." Die Wombi verwarf das Projekt auf der Stelle.
Eines anderen Abends freute ich mich , da die Wombi sich mit ihrem zehn Jahre jüngeren Bruder beschäftigte. Und zwar lang. Vielleicht spielen sie Memory oder zeichnen oder fädeln eine Glaskugel-Kette, dachte ich und nutzte die frei gewordene Zeit, um die Wäsche aufzuhängen, die schon seit mehreren Stunden darauf wartete – wie das fertig gebackene Brot bei der Frau Holle. (Nur mit dem Unterschied, dass meine Wäsche rief: "Zieh mich raus, zieh mich raus – sonst verschimmle ich.")
Das Geheimnis der rosigen Wangen
Als ich den kleinen Bruder der Wombi in die Badewanne steckte, fiel mir auf, dass er ganz rote Wangen hatte. Natürlich kam er mir sofort auch recht heiß vor und ich schob ein wenig Panik. Nicht jetzt krank werden, flehte ich ihn an. Er sah mich an, als wäre ich verrückt. "Ich bin sehr gesund", versicherte er mir. Nach der Gute-Nacht-Geschichte platzte die Wombi ins Zimmer, die wissen wollte, ob ich ihre Pinzette verwendet hätte. Dabei streifte ihr Blick ihren Bruder, dessen Bäckchen in dem blassen Wintergesicht auf dem weißen Kopfkissen wie zwei überreife Äpfel hervorstachen. "Wieso hast du ihm die Wimperntusche nicht abgeschminkt?", fragte sie, "und das Rouge hat er ja auch noch im Gesicht." Ich schaute jetzt genauer hin. "Du hast ihn geschminkt?", fragte ich ungläubig. "Nein", verteidigte sich die Wombi, "ER hat sich geschminkt."
"Tatsächlich? Er kann sich also mit fünf Jahren selber die Wimpern tuschen ohne zu patzen?", fragte ich weiter. Die Wombi fand "dieses Verhör total lächerlich" und stampfte ins Badezimmer. Anderntags hatte sie eine virtuelle Unterrichtsstunde und da musste sie zeitgerecht mit den Vorbereitungen (Haare waschen, Duschen, Gesicht peelen) beginnen. Man konnte unmöglich im Jogger und mit Fetthaaren vor den Bildschirm treten.
Leute, die jetzt, wo es schnuppe sei, im Jogginganzug lebten, hätten sich in Wombis Augen bereits aufgegeben.
"Wozu man den Jogginganzug aber anziehen kann, ist beim Joggen", sagte ich hoffnungsfroh, "Bewegung alleine oder im Verbund mit der Familie ist erlaubt."
Da fiel der Wombi aus heiterem Himmel ein, dass ich, wenn ich das nächste Mal laufen gehen würde, doch bitte ihr Telefon mitnehmen möge. Den Gedankensprung verstand ich zwar nicht, freute mich aber naiv. "Gern, das mache ich, dann kannst du dich besser auf deine Arbeiten für die Schule konzentrieren und bist nicht abgelenkt." Ich lächelte.
Die Wombi überlegte kurz, ob sie zurücklächeln sollte, entschied sich dann aber für die Wahrheit: "Eigentlich hat uns der Sportlehrer aufgetragen bis Ende März sieben Kilometer zu laufen. Dafür haben wir eine App heruntergeladen. Wenn du mein Handy mitnimmst, speichert es deine Kilometer."
"Na klar, kein Problem", sagte ich, "ich schminke nur noch schnell deinen Bruder ab."
Corona, du kriegst uns nicht klein.