Ein Bericht von einer unglaublichen Nacht in München
Die einfache Frage eines Studienkollegen sollte mich um viele Stunden Schlaf bringen: »Wo schaust du heute Fußball?« Hatte ich ganz vergessen: Finale. FC Bayern gegen Valencia. Eigentlich interessiere ich mich nicht für Fußball, geschweige denn für die Champions League: »Weiß nicht, hab noch Uni...« Weiter komme ich nicht, die Einladung zum Leinwanderlebnis in der Studentenstadt ist schon ausgesprochen. Um 19 Uhr Treffpunkt im 19. Stock - im Dachbiergarten. Einverstanden, obwohl es mich ja nicht interessiert.
Bei meinem Eintreffen herrscht unter den Studenten bereits eine dem Ereignis, dem Ort und dem Wetter angemessene Hochstimmung. Bayern, Bier und Beamer - Anpfiff. Dann der erste Schock: Elfmeter gegen Bayern. 0:1. Entsetzen, Ungläubigkeit. Ein Geschichtsstudent erinnert an das Spiel gegen Manchester United 1999. Aufmunterung oder Unwissenheit? Weiß nicht. Weiß nur, dass ich mich ärgere, obwohl es mich ja gar nicht interessiert.
20.55 Uhr: Immer wieder schweifen meine Blicke über die grandiose Silhouette Münchens. Ein rotglühender Fußball versinkt im Häusermeer. Noch ein Elfmeter! Meine Konzentration gilt wieder dem Spiel. Mehmet Scholl verschießt. »Mensch, du Idiot«, ruft jemand. Halt! Das war ja ich!? Aber ich interessiere mich doch gar nicht... Ausflüge meiner Blicke werden seltener, die Tischkante häufiger Opfer meiner verkrampften rechten Faust. Dann geht alles sehr schnell. Pause, Ausgleich, Elfmeterschießen - Kahn hält. Es ist passiert, nach 25 Jahren hält der FC Bayern endlich den Pott in der Hand. Grenzenloser Jubel. Juristen, Sozialpädagogen, Tiermediziner, Geschichtler, Politologen liegen sich in den Armen. Und ich mittendrin. Weder bin ich Fußballfan, noch interessiert mich der FC Bayern, aber heute hier und jetzt falle ich wildfremden Studenten um den Hals. Vergessen all die intellektuellen Argumente gegen Massenereignisse, gegen Hordenwahn - ich lasse mich treiben. Die Leopoldstraße - Münchens Siegesmeile - fängt mich auf:
0.12 Uhr: Plötzlich ist egal, wer man ist und warum. Ob Student oder Kleinkind. Rentner oder Friseur. Gut, nur Barkeeper sollte man an diesem Abend nicht sein. Ansonsten gilt das Gesetz der Masse. Diese Freude, diese maßlose Freude. Ist das das Gefühl von Revolutionen? Nä.
1.23 Uhr: Wie viele sind es? 50.000? Eruptive spontane rotweiße Ausgelassenheit - mein Studienkollege fragt gerade ein vorbeischleichendes Auto, ob er mal hupen dürfte. Wir grölen Gebrauchslyrik, tanzen zu Schlachtgesängen und freuen uns, als ob wir unseren Studienabschluss in der Tasche hätten.
3.05 Uhr: Mein Studienkollege beginnt damit, Frauen in Bayern Trikots anzusprechen. Ich kann nicht. Meine Stimme versagt.
4.43 Uhr: Es ist vollbracht. Die Leopoldstraße leert sich. Zurück bleibt ein Meer von Flaschen, ich und die Frage: Was war denn heute mit mir los? Mein Studienkollege antwortet nicht - er ist heimgegangen. Trikots tauschen... (cw)