In seinem Abschiedsvideo stellt sich Tate als unterdrückter und unter Zensur leidender Mann dar: Als Märtyrer, der "bestraft" wurde, weil er sich traute, zu sagen, was andere denken. Weil er sich traute, zu sagen, dass Frauen in die Küche gehören, dass sie seine teuren Autos niemals fahren dürften oder dass Frauen Eigentum von Männern wären. 4,7 Millionen Menschen folgten dem 35-jährigen Ex-Kickboxer. Inzwischen wurde er von allen großen Plattformen gesperrt: Facebook, Instagram, Youtube, Tiktok.

"Andrew Tate hat meinen Freund dazu gebracht, mich zu hassen"
Ein virales TikTok-Video einer jungen Frau zeigt die weitreichenden Konsequenzen seiner Inhalte: Mit melancholischer Hintergrundmusik steht sie im Fokus und schaut bedrückt in die Kamera, darüber der Titel: "Andrew Tate hat meinen Freund dazu gebracht, mich zu hassen."
Über elf Millionen Mal wurde es aufgerufen, die Kommentare wurden deaktiviert. Sie ist kein Einzelfall. In vielen Reddit-Foren teilen viele Frauen ihre Sorgen darüber, was sie tun sollen, wenn ihre Freunde seine Inhalte konsumieren.
"Ich kann der Freundin nur gratulieren"
Tara Wittwer ist Kulturwissenschaftlerin, Buchautorin und auf sozialen Netzwerken als @wastarasagt bekannt. Sie wundert sich, dass sich auch vergebene Männer von Content à la Tate catchen und manipulieren lassen. "Aber ich kann der Freundin nur gratulieren. Gut, dass sie jetzt gesehen hat, wie er anscheinend wirklich über Frauen denkt", so Wittwer im stern-Interview.
Auf Instagram zeigt und kritisiert Wittwer in ihrem Reels-Format "TikToxic" auf humorvolle Art, wie Misogynie durch Männer und Frauen auf Social Media verbreitet wird. Andrew Tate wurde ihr zum ersten Mal im März dieses Jahres in ihre Timeline gespült.

Auch er war Teil einer Folge von "TikToxic": "Mich wundert es, wieso er so eine Präsenz hat", sagt Wittwer. Ihre Theorie: Personen, die wiederholt provokante Aussagen verbreiten, würden oft viral gehen. Je mehr Kommentare ein Post sammelt, desto wahrscheinlicher sei es, dass der Beitrag viral geht.

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Warum Andrew Tate so gefährlich ist
Das sieht auch Alexander Prinz so. Prinz ist Youtuber und Creator und hat zu Tate einen ausführlichen Bericht veröffentlicht, in dem er sein System erläutert: "Hinter Tate steckt ein Affiliate-Programm, die 'Hustlers University'. Sie arbeitet nach dem Prinzip: Mitglieder werben Mitglieder." 52 Prozent der Mitgliedsbeiträge gehen laut Prinz an das Mitglied, das ein anderes angeworben hat.
In diesem Fall sei das Produkt kein Nahrungsergänzungsmittel, sondern Andrew Tate selbst. "Er verkauft seinen Lifestyle: das Reichsein, das Posen mit Autos und Frauen", so Prinz. Mit seinen Motivationssprüchen lockt er Millionen von Instagram- und Tiktok-Nutzer an. Durch seine Vergangenheit als Kickboxer und Unternehmer habe er etwas vorzuweisen – Erfolge, Geld und Status.
Was ihn noch gefährlicher macht: Er sprach dem "Guardian" zufolge offen darüber, dass die Polizei gegen ihn ermitteln würde, weil er eine Frau missbraucht haben soll. Die Vorwürfe bestritt er jedoch. In einem anderen Video sagte er:
"Ich bin kein Vergewaltiger, aber ich mag die Vorstellung, einfach tun zu können, was ich will. Ich mag es, frei zu sein."
Meta sperrt Tate – der lebt jedoch im Internet weiter
Kurz nachdem Andrew Tate aufgrund seiner Inhalte gesperrt wurde, tauchten viele Nutzer auf, die ihn mit dem Hashtag #FreeTate unterstützen: 1500 Posts lassen sich auf Instagram darunter finden – auf Tiktok hat seine "letzte Nachricht" 8,9 Millionen Aufrufe und 1,2 Millionen Likes.

Alexander Prinz sagt dazu: "Grundsätzlich finde ich es gut, dass er gesperrt wurde. Das Problem ist: Wenn du auf Instagram oder Tiktok Andrew Tate als Hashtag oder Suchbegriff eingibst, findest du immer noch seine Beiträge." Tate wird zuletzt in Kroatien gesichtet, wo vor einer Yacht eine große Gruppe Tate-Fans auf ihn warten und ihn bejubeln. Eine Tiktok-Influencerin filmt und begleitet ihn für ein paar Tage im Luxus-Urlaub: "Niemand kann den Top G canceln", schreibt eine Userin und erwähnt ihn mit seinem Spitznamen.
"Natürlich wirst du gecancelt, wenn du ein Sexist bist"
Alexander Prinz findet, dass durch die Sperrung in Andrew Tates Bubble bestätigt worden sei, dass es eine "Cancel Culture" gibt. Das Gefährlichste daran: "In den Beiträgen, die man von ihm sieht, wird er nicht herausgefordert. Ihm wird nicht widersprochen. Er gewinnt die Diskussion", so Prinz.
Tara Wittwer ergänzt: "Ich finde, das ist zu einfach, das zu sagen. Natürlich wirst du gecancelt, wenn du ein fucking Sexist bist." Sie zitiert: "Verwechsle nicht das Canceln von Inhalten mit Konsequenzen." Tate wurde demnach nicht gecancelt, sondern er habe Konsequenzen getragen für sein Verhalten.
Es sei ein wichtiger Schritt von den Plattformen zu zeigen, dass sie Sexismus, Misogynie und Gewaltandrohungen nicht tolerierten. "Sexismus ist einfach keine Meinung, deswegen greift das Argument Meinungsfreiheit nicht", erklärt die Kulturwissenschaftlerin.
Das Symptom Andrew Tate
Misogynie als Business-Konzept ist kein neues Phänomen. Das Bild des starken Mannes als Alternative für den 'verweichlichen' westlichen Mann sei Prinz zufolge für eine gewisse Anzahl von Menschen interessant. Die Zielgruppe: Junge Männer, die Orientierung und Ratschläge brauchen. Junge Männer, die noch geformt werden können. Was er seinen Schülern mitgeben möchte, sei laut Prinz: "Diese Gesellschaft ist von Schwäche und Unterdrückung des Mannes geprägt."
Zudem verbreitet der selbst ernannte "Top G" Verschwörungstheorien: Es gäbe eine sogenannte "New World Order" – eine "neue Weltordnung", die von gleichgeschalteten Medien und Politik bestimmt würden und in der Menschen unbegründet gecancelt werden.

Mit Reichweite auf Sexismus aufmerksam machen
Oft werde Tara Wittwer gefragt, wieso sie frauenfeindlichen Inhalten in ihrem Format eine Plattform gibt und weiterverbreitet. Darauf antwortet die 31-Jährige: "Mit dieser Reichweite, in meinen Kontext gestellt, kann ich immer noch mehr erreichen, als es einfach zu ignorieren."
Trotz der Gefahren, die die sozialen Netzwerke mit sich bringen, ist Tara Wittwer ein großer Fan von Instagram und Tiktok: "Die Apps nicht zu nutzen, ist so wie: 'Ich halte jetzt meine Augen zu, weil es vor mir brennt, und sage: Guck mal, es brennt ja gar nicht mehr, weil ich es nicht mehr sehe.'"