Dieses Interview stammt aus dem stern-Archiv und erschien zuerst im September 2020. Zum 100. Geburtstag von Anita Lasker-Wallfisch veröffentlichen wir es erneut.
Anita Lasker-Wallfisch überlebte das Konzentrationslager Auschwitz, weil sie Cello spielen konnte. Während nur wenige Meter entfernt Menschen vergast wurden, musste sie mit dem Mädchenorchester für ihre Mitgefangenen Märsche zum Arbeitsbeginn und Arbeitsende spielen. Auch für die NS-Offiziere musizierte Lasker-Wallfisch. Für Josef Mengele etwa, den KZ-Arzt von Auschwitz, musste sie die Träumerei von Schumann spielen.
1944 deportierten die Nazis Lasker-Wallfisch nach Bergen-Belsen, dort wurde sie schließlich von britischen Soldaten befreit. Sie hatte überlebt und konnte ihr nächstes Leben beginnen: Lasker-Walfisch zog nach England und spielte weiter Cello. Sie wurde professionelle Musikerin und war Mitbegründerin des English Chamber Orchestra. Später heiratete sie den Pianisten Peter Wallfisch, der genau wie sie selbst aus Breslau stammte. Gemeinsam bekamen sie zwei Kinder. Ihr Sohn Raphael wurde ebenfalls ein erfolgreicher Cellist. Aber während Lasker-Walfisch versuchte, nicht mehr an die Zeit im KZ zu denken, kam ihre Tochter Maya mit dem Leben in dieser von Tragik und Tod belasteten Familie nicht zurecht.
Denn der Schrecken, der ihrer Mutter im Konzentrationslager widerfahren ist, wurde in der Familie nicht thematisiert. Maya Lasker-Wallfisch litt unter dem Unausgesprochenen, sie rebellierte. Sie wurde drogenabhängig, geriet in eine Lebenskrise. Erst ein Entzug und eine Aussprache über die Familiengeschichte brachten sie wieder auf die Spur. Inzwischen ist sie Psychoanalytikerin und spezialisiert auf Traumata, die über mehrere Generationen übertragen werden.
Frau Lasker-Wallfisch, Musik an einem so grausamen Ort wie Auschwitz, das ist für uns unvorstellbar. Haben Sie sich damals Gedanken dazu gemacht?
Anita Lasker-Wallfisch: Nein, überhaupt nicht. Man hat sich nicht so viele Gedanken gemacht. Wir haben dort von einem Tag auf den anderen gelebt. Wir sind in Ausschwitz angekommen und haben darauf gewartet, in die Gaskammer zu gehen. Plötzlich drückte mir jemand ein Cello in die Hand. Ich war froh, dass ich noch am Leben war. Das war alles. Aber es ist unmöglich, jüngeren Generationen das klarzumachen. Das ist nicht zu verstehen. Und mir ist auch gar nicht so wichtig, dass man es unbedingt versteht. Man soll sich heute anständig benehmen. Was damals war, ist so unglaublich, dass es eigentlich keine Worte dafür gibt.
Sie sind nachher dann professionelle Musikerin geworden. War die Musik für Sie nicht mit dem Grauen verbunden?
Nein, Musik ist unantastbar. Mit solchen Gefühlen verschwende ich nicht die Zeit, die mir glücklicherweise geblieben ist. Wie kannst du heute noch Musik machen, wenn du damals musstest? Was ist das für ein Blödsinn! Selbstverständlich kann ich Musik machen.
Hat Ihnen die Musik dann geholfen, nach der Zeit im Konzentrationslager, weiterzuleben?
Ja, auf eine Art schon. Ich wollte immer Musikerin werden und bin es geworden. Am Ende habe ich gesiegt.
Und welche Rolle hat es dabei gespielt, dass Sie dann Kinder bekamen?
Naja, ich wollte eben ein normaler Mensch mit normalem Leben sein. Also wollte ich auch Kinder haben.
Kam Ihnen nicht nach all dem, was sie vorher erlebt haben, das normale Leben wahnsinnig banal vor?