"Die Erinnerungen sind überall" Er hat Auschwitz überlebt. Sie war seine Pflegerin. Heute leben sie in einer ungewöhnlichen WG

Albrecht Weinberg ist 98 Jahre alt und hat den Holocaust überlebt. Gerda Dänekas ist 74 Jahre alt und ehemalige Pflegerin in seinem Altenheim. Ein Besuch in einer besonderen Wohngemeinschaft. 
Porträt Albrecht und Gerda
Albrecht Weinberg und Gerda Dänekas in ihrem Wohnzimmer im ostfriesischen Leer
© Jesco Denzel

Lieber Albrecht,
eigentlich hattest du dir nach dem Holocaust geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen, und bist mit deiner Schwester in die USA ausgewandert …
ALBRECHT:… und jetzt lebe ich schon seit zwölf Jahren wieder in Leer. Unbelievable!

GERDA: Moment mal! Ich hol mal deine Ohren.

Albrecht Weinberg, 98, und Gerda Dänekas, 74, sitzen beim Frühstück. Gerda setzt Albrecht Weinberg das Hörgerät ein, und das Interview in Deutschlands Wohngemeinschaft mit dem wohl höchsten Altersdurchschnitt kann weitergehen. Im Herbst 2022 hatte der stern den Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg bei einer Israelreise mit einer Schulklasse begleitet, aus dieser Reportage ist nun ein Buch über seine Lebensgeschichte hervorgegangen. Albrecht Weinberg besteht darauf, geduzt zu werden, schließlich, so sagt er, habe er das Siezen während der Jahrzehnte, die er in den USA lebte, verlernt.

Wie kann man sich einen Tag in eurer ungewöhnlichen WG vorstellen?
GERDA: Jeden Morgen sitzen wir nebeneinander am Esstisch, teilen uns eine Banane und trinken Ostfriesentee, ich rühre für Albrecht einen Haferbrei und schmiere mir ein Brot.

ALBRECHT: Gerda ermahnt mich ständig.

GERDA: Ja, du trinkst ja auch wirklich zu wenig. Albrecht, dein Tee wird kalt!

ALBRECHT: Immer soll ich trinken, Frau Dänekas!

GERDA: Sie müssen, Mister Weinberg! Eine Freundin hat mir gesagt, wir würden uns kabbeln wie ein altes Ehepaar.

ALBRECHT: Dabei lobe ich Gerda andauernd. Nachmittags liest sie mir immer so schön vor.

GERDA: Ja, wir haben mittlerweile eine kleine Bibliothek mit Holocaust-Erinnerungen.

Dreht sich bei euch viel um den Holocaust?
GERDA: Ja, bestimmt einmal am Tag sage ich zu ihm: "Albrecht, bitte nicht schon wieder Holocaust!" Kurz darauf streiche ich dann aber doch wieder die Holocaust-Dokumentationen in der Fernsehzeitschrift an, damit wir sie nicht verpassen.

ALBRECHT: Jeden Morgen sehe ich beim Waschen die Nummer auf meinem Arm. 116927. Du kannst beinahe 100 Jahre alt werden, und du bekommst Auschwitz nicht aus dem Kopf. Es wird dich nie verlassen, an keinem Tag in deinem Leben danach.

GERDA: Nachts liegt Albrecht meist lange wach. Dann hört er immer dieselbe Radiodokumentation über das Konzentrationslager Mittelbau-Dora.

Albrechts Nummer aus Auschwitz
Die Nummer 116927 wurde Albrecht 1943 in Auschwitz auf den Arm tätowiert
© Jesco Denzel

Warum tust du das?
ALBRECHT: Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich immer noch versuche zu begreifen, was man nicht begreifen kann.

Bereust du es manchmal, zurückgekehrt zu sein?
ALBRECHT: Am Anfang. Meine Schwester starb drei Monate nach unserer Rückkehr. Ich war allein. Doch jetzt habe ich Gerda. Manchmal kann ich mein Glück gar nicht fassen. Aber es ist für mich nicht immer leicht in Deutschland.

Erschienen in stern 11/2024