Umfragehoch "Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen" – der Publizist Michel Friedman über den Aufstieg der AfD

  • von Michel Friedman
Michel Friedman, 67. Viele Menschen aus seiner Familie wurden im Holocaust ermordet. Dennoch zogen seine Eltern 1965 mit ihm von Frankreich nach Deutschland
Michel Friedman, 67. Viele Menschen aus seiner Familie wurden im Holocaust ermordet. Dennoch zogen seine Eltern 1965 mit ihm von Frankreich nach Deutschland
© Alina Emrich, Kien Hoang Le
Michel Friedman warnt seit Jahren über die Gefahr durch die AfD. Die sieht er auch im Schweigen der Mehrheit angesichts der Angriffe auf unsere Demokratie.

Ich liebe die Freiheit. Sie auch?

Ich empfinde den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung als unverzichtbar. Sie auch?

Ich genieße die Meinungs-, Presse- und Kulturfreiheit. Sie auch?

Meine Augen glänzen, und ich empfinde Glück, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Sie auch?

Warum tun dann so viele so wenig dafür?

Meine Eltern, die den Holocaust überlebt hatten, weil sie auf Oskar Schindlers Liste standen, migrierten mit mir in den 60er-Jahren nach Deutschland. Seither lebten sie auf gepackten Koffern. Ihre Traumatisierung, ihr Überlebenskampf, ihre tägliche Begegnung mit dem Tod, ihre Erfahrung, wie bestialisch Menschen sein können, das alles zwang sie, auf alles gefasst zu sein. Erst recht im Nachkriegsdeutschland. Einem Land, in dem die Nazis sich weiß färbten und an vielen Orten der Macht verblieben. Einem Land, in dem es die NPD und die rechtsterroristische Wehrsportgruppe Hoffmann gab. "Die Zivilisation", so hat es der Philosoph Ernst Cassirer formuliert, "ist eine ganz dünne Kruste über einem Vulkan."

Friedman, studierter Jurist und Philosoph, hat als Anwalt, TV-Moderator, Publizist und für jüdische Organisationen gearbeitet
Friedman, studierter Jurist und Philosoph, hat als Anwalt, TV-Moderator, Publizist und für jüdische Organisationen gearbeitet
© Alina Emrich, Kien Hoang Le

In den 80er-Jahren kamen die gepackten Koffer in den Schrank. Eine neue Generation, persönlich unbelastet, bestimmte mehr und mehr die öffentlichen Debatten und begann ihren Weg durch die Institutionen. Eine engagierte Generation, die es nicht so machen wollte wie ihre Eltern und Großeltern. Und doch: Judenhass, Ausländerhass, also Menschenhass, blieben virulent. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

In den 90er-Jahren packte meine Generation die Koffer aus. Das Vertrauen war gewachsen – obwohl die Vereinigung von Ost- und Westdeutschland zeigte, dass der menschenverachtende Blick in Teilen der Bevölkerung eine gefährliche Realität auf beiden Seiten war. Obwohl rechtsextremistische Gewalttaten wie in Mölln, Solingen, Rostock und Hoyerswerda die Gemütlichkeit und Selbstgefälligkeit der deutschen Öffentlichkeit störten. Und dann die Mordserie des NSU.

Seit einiger Zeit überlege ich, ob ich meine Koffer wieder aus dem Schrank holen soll.

Seit über 50 Jahren, in denen ich hier lebe, geht mir die Diagnose Bertolt Brechts nicht aus dem Kopf: "Dass keiner uns zu früh da triumphiert. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." Ich war dennoch nicht darauf vorbereitet, dass Millionen Deutsche eine Partei des Hasses ins Parlament wählen würden. Dass sie demokratisch gewählt wurde, macht sie auch nicht zur demokratischen Partei. Seit sie zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt wurde, ist klar: Diese Partei ist kein vorübergehendes Phänomen, sie gehört jetzt zur politischen Struktur.

Viele Menschen, mit denen ich spreche, sorgen sich. Viel zu viele aber machen sich keine Gedanken, haben keine Angst. Nicht wenige deuten an, dass auch sie, natürlich nur hie und da, Positionen der AfD teilen. Seit 2015, als mehr als eine Million Menschen nach Deutschland geflohen sind, habe ich zu viele Abendessen mit starker Migräne verlassen müssen. Gut ausgebildete, gut verdienende Menschen radikalisierten sich, enthemmten sich, sprachen Vorurteile offen aus, schimpften wütend auf "die da oben", obwohl sie zu denen doch auch gehören. Die Pandemie und der Angriffskrieg der Russen erweiterten die Themen und vertieften die Erfahrung.

Erschienen in stern 27/2023