Laute Mitte, leise Ränder Woher kommt diese Wut? Der Soziologe Steffen Mau erklärt, wann eine Gesellschaft ausflippt

Bauernprotest: Traktoren blockieren eine Straße
Bundesweite Bauernproteste am 8. Januar: hier in Heidelberg 
© Daniel Kubirski / Imago Images
Der Soziologe Steffen Mau über Triggerpunkte – und was Klimakleber und Gendersternchen damit zu tun haben.

Das vergangene Jahr hatte uns mit Heiz-Hammer, Klimakleber und Schuldenbremse extrem aufgeladene und polarisierende Debatten beschert. Er gehe davon aus, dass das im neuen Jahr so weitergeht, sagte der Soziologe Steffen Mau zum Jahresende im Gespräch mit dem stern. Der Soziologe forscht zu gesellschaftlichen Triggerpunkten. Man kenne das aus der Physiotherapie: Bei der Berührung bestimmter Punkte komme es zu einer anscheinend unverhältnismäßig starken Reaktion, weil es tiefer liegende Verspannungen oder Reizzonen gibt.

Mau sollte mit seiner Prognose recht behalten. Bundesweit protestieren gerade Landwirte und behindern den Verkehr. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir das Interview erneut.

Herr Mau, mit Ihrem Buch "Triggerpunkte" haben Sie eine Theorie des Ausflippens verfasst. Bei welchen Themen reagieren die Menschen besonders empfindlich?
Wenn ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit verletzt werden. Oder die von Normalität. Viele Menschen fühlen sich in ihrer Lebensweise, die sie als normal empfinden, durch soziale Veränderungen und deren Repräsentanten herausgefordert. Ein weiteres großes Thema ist die Angst vor Kontrollverlust, etwa durch Migration. Viele fühlen sich auch durch gendergerechte Sprache getriggert. Sie haben den Eindruck, nicht selbst entscheiden zu dürfen, wie sie in der Öffentlichkeit sprechen. Es geht um Autonomie und empfundene Verhaltenszumutungen.

Trotz dieser erbittert geführten Debatten sagen Sie: "Die gesellschaftliche Spaltung Deutschlands, von der alle sprechen, gibt es so nicht." Wie kommen Sie dazu?
Die Empirie gibt es schlicht nicht her. Unsere Daten zeigen: Die Konflikte spielen sich vor dem Hintergrund eines großen Konsenses ab. Ich benutze dazu gern das Bild der Dromedar- und Kamelgesellschaft.

Erschienen in stern 52/2023