Anschlag auf Weihnachtsmarkt So erlebten stern-Reporter die Schreckensnacht in Berlin

  • von Frauke Hunfeld
  • und Silke Müller
  • sowie von Christophe Gateau und Felix Futschik
Zwölf Tote, etwa 50 Verletzte: Der mutmaßliche Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin macht traurig und fassungslos. Vier stern-Reporter haben ihre Eindrücke aus der Nacht aufgeschrieben.

Die ganze Welt blickt schockiert auf Berlin: Dort ist am Montagabend ein Lkw auf einen Weihnachtsmarkt gerast und hat zwölf Menschen getötet. Etwa 50 Menschen wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Die Polizei spricht von einem Verdacht auf einen Terroranschlag (Zum Nachlesen: Was wir wissen und was wir nicht wissen). stern-Reporter aus Berlin haben ihre Eindrücke aus der Nacht aufgeschrieben.

Frauke Hunfeld, Breitscheidplatz: 

Die Stadt ist still in diesen Nachtstunden des 20. Dezember, stiller als sonst. Ein Lkw schräg auf dem Breitscheidplatz, die Laderaumtüren offen, die Frontscheibe zersplittert, daneben Lametta, Christbaumschmuck, und eine verlorene Mütze.  Kriminaltechniker sichern Spuren. Man will herausfinden, mit welcher Geschwindigkeit der Lkw auf den beliebten Weihnachtsmarkt gerast ist, man sichert Spuren im Fahrzeug. Im direkt am Platz gelegenen Kino Zoopalast lässt man die Vorstellungen um 20 Uhr und um 20.30 Uhr durchlaufen, obwohl schon bekannt ist, dass es einen Vorfall mit einem Lkw und mehreren Toten gegeben hat. Man will keine Panik verbreiten. Nicht alle haben mitbekommen, was passiert ist. Nach den Vorstellungen werden die Leute nach draußen geleitet.

Aus einiger Entfernung ist eine leichte Explosion zu hören. Polizisten haben einen Verdächtigen Gegenstand in der Rankestrasse "gesichert". Nur ein Schlafsack. Heute Abend ist alles verdächtig, was gestern noch harmlos war.

Die Stadt wirkt traurig, aber nicht schockiert. Als ob viele damit gerechnet haben, das so etwas passiert. Passanten an den Absperrungen reden leise miteinander. Machen die Wege frei, wenn die Polizei durchwill, ermahnen sich, nicht auf Gerüchte zu hören, flüstern Informationen und sagen dazu, woher sie stammen.

Die Zahl der Toten ist auf zwölf gestiegen. Es brennen die ersten Kerzen für die Opfer.

Die Stadt wirkt milder als sonst, weniger rau. In der U-Bahn wünscht man sich guten Heimweg. Fremde teilen sich die wenigen Taxen, die es bis an den Zoo geschafft haben. Als ob die Stadt zusammenhalten will in dieser Nacht.

Ob die Weihnachtsmärkte am nächsten Tag öffnen, ist noch unklar. Der Busverkehr wird eingeschränkt. In den Bahnhöfen patrouilliert Bundespolizei mit Schutzwesten und Maschinenpistolen. Alle wissen trotzdem, dass man eine Stadt wie Berlin nicht schützen kann. Terrorwarnstufe gelb, die zweithöchste, gilt bis auf Weiteres. Am Dienstag wird Berlin Trauer tragen. Alle Fahnen auf Halbmast.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Christophe Gateau, Bahnhof Zoo:

Kurz nach dem Anschlag saß ich in der Bahn auf dem Weg zum Breitscheidplatz. Zwei Teenager wundern sich über die ganzen Meldungen von Facebook auf ihren Smartphones "XY möchte wissen, ob sie in Sicherheit sind?" Sie kichern und scheinen sich der Situation nicht bewusst zu sein. Als ich durch den fast leeren Bahnhof Zoo laufe, überkommt mich ein Gefühl, das ich aus Nizza und Paris kannte. Jedoch noch näher und gleichzeitig unrealistischer, weil ich hier aufgewachsen bin. Vor Ort geht alles sehr schnell, ich werde zu den anderen Journalisten vorgelassen und finde mein Team. Die Polizei hat hier sehr schnell reagiert, und alles ist weiträumig abgesperrt. Generell wirken die Polizei sowie Feuerwehr und Rettungsteams sehr gefasst, was beruhigend ist.

Später fahren wir zum Virchow-Klinikum, das laut einem etwa 50-Jährigen fünf Verletzte aufgenommen hat. Er scheint eher gelassen und wirkt so, als hätte er das Ausmaß des vermutlichen Anschlags noch nicht verarbeitet.

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So besonnen informierte die Berliner Polizei über den Anschlag

Silke Müller, Virchow-Klinikum:

0.40 Uhr, Virchow-Klinikum, Berlin-Wedding. Nur noch ein einziger Mann sitzt im Wartebereich der Notaufnahme. Sein Schwiegersohn war auf dem Weihnachtsmarkt unterwegs mit einem Freund, als der Lkw durch die Budengasse raste. Nun wird er hier behandelt, ein Schock, sagt der Mann, und dass er wohl Glück gehabt habe. Der Freund des Schwiegersohnes hingegen sei schwer verletzt, er wurde ins Gertraudenkrankenhaus gebracht. Viel zu sagen gebe es nicht, sagt der Mann und schaut resigniert, er ist nicht wütend, eher erschüttert und traurig.

In den U-Bahnen am späten Abend war keine besondere Aufregung oder Unruhe zu spüren. Wer um Mitternacht U-Bahn fährt, kann entweder nicht auf anderem Weg nach Hause kommen oder ist abgebrüht genug, sich über nichts mehr zu wundern. Auf den Bildschirmen, die normalerweise für Varieté-Vorstellungen werben oder Boulevard-Schlagzeilen verbreiten, informieren Textbänder über die aktuell gesperrten Linien.

Vor dem Zoopalast brach gegen etwa 23 Uhr noch einmal kurz Hektik aus, als Polizisten mit Taschenlampen den Boden abzusuchen begannen. Sie leuchteten in Papierkörbe, auf den Fußboden und auf Sockel und Leisten oberhalb von Imbissbuden. Was genau sie suchten, durften sie nicht verraten. Kurze Zeit später knallte es aus Richtung Kantstraße.

Schnell verbreitete sich unter den noch immer nahe des Tatorts wartenden Journalisten, dass ein verdächtiger Gegenstand gesprengt worden sei. Auch diese Nachricht wird am Breitscheidplatz relativ gelassen weitergegeben. Nachdem es anfangs zu ungehaltenen Kommentaren und Drängeleien unter den Journalisten gekommen war, die alle so nah wie möglich an den Ort des Geschehens heranrücken wollten, stellte sich recht schnell ein bedächtiger Umgang mit Kollegen und Polizisten ein.

Thomas Neuendorf, Polizeipressesprecher, wandert geduldig zwischen den wartenden Reportern hin und her und gibt Auskunft über den aktuellen Stand, um ihn herum berichten Teams auf Englisch, Polnisch, Russisch, Dänisch und vielen weiteren Sprachen live vom möglichen Anschlag.

Eher genervt reagieren viele Umstehende auf die Facebook-Mitteilungen all jener Bekannter, die sich als "safe" melden. Es ist wohl die Diskrepanz zwischen der merkwürdigen Ruhe am Ort des Geschehens und der offensichtlichen Aufregung darüber an allen anderen Orten, und vielleicht auch die Routine, mit der jetzt alle plötzlich Katastrophen-Tools bedienen, die hier Kopfschütteln verbreiten.

Der Taxifahrer, der mich gegen 21 Uhr zum Zoo fuhr, wusste noch gar nichts von den Vorfall, bis ich ihn bat, das Radio einzuschalten. War es ein Ausländer?, fragt er als erstes, und schiebt nach längerem Schweigen hinterher: Nächstes Jahr ist Wahl, wird schlimm.

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"Was für ein beschissener Montag"

Felix Futschik, Ecke Joachimsthaler Straße/Hardenbergstraße:

Gegen 21:30 Uhr an der Ecke Joachimsthaler Straße/Hardenbergstraße, Bahnstation Zoologischer Garten: Journalisten drängen zum Absperrband. Die Polizei versucht für Ordnung zu sorgen. Sie erklärt, dass ein Pressesprecher die Medienvertreter gleich abholen würde. Überall stehen Menschen, gucken, machen Video- und Fotoaufnahmen. Rechts daneben ist die Rettungsgasse. Ständig verlassen Rettungswagen den Tatort, bringen verletzte Menschen in Krankenhäuser, kommen wieder zurück. Etwas abseits steht ein Mann. Er ist blass, seine Augen glänzen. Fassungslos beobachtet er das Geschehen. Er sei mit Freunden in einer Bar um die Ecke gewesen.

Gerüchte machen die Runde: "So ein Anschlag musste in Deutschland passieren. Wir hatten viel zu lange Glück", sagt er. Seinen Namen möchte er nicht in der Presse lesen. Aufsehen erregt ein 15-jähriger Junge. Er hat auf seinem Handy ein Video, das die dramatischen Szenen zeigen soll, nachdem der Lkw in die Menge gerast ist: Überall liegen Verletzte. Menschen versuchen zu helfen. Teile von zerstörten Weihnachtsmarktbuden liegen herum. Es sind dramatische Bilder. Eine Verwandte hätte ihm das Video zugespielt, sagt er.

kis