Ein Familienmitglied hat kürzlich einen neuen Job angetreten. Er ist Bauingenieur. Und etwas erstaunt berichtete er, dass es in seinem neuen Betrieb üblich sei, dass sich alle untereinander duzen. Die Kollegen, aber auch die Chefs. Das war bei seinen vorherigen Arbeitgebern stets anders und bedeutete für ihn eine Umgewöhnung. Aus dem Journalismus kenne ich hingegen das allgemeine Duzen von Anfang an, wobei das vermutlich auch von den jeweiligen Redaktionen abhängt. Der Trend scheint dennoch überwältigend deutlich: Das standardmäßige "Du" wälzt sich weiter voran. Selbst in Lebensbereiche, in denen es vor ein paar Jahren noch niemand vermutet hätte.
Seinerzeit hörte man häufiger noch, dass jemand das Siezen auf der Arbeit eigentlich gut fände, weil man so klarer zwischen Privatem und Beruf unterscheiden könne. Weil das "Sie" mehr Respekt und gleichzeitig mehr Distanz ausdrücke. Aber dieses Argument scheint inzwischen verblasst, da das "Du" heutzutage längst nicht mehr nur Freundschaften oder familiären Kontakten vorbehalten ist. Es drückt nicht mehr die Intimität aus, die es sicher noch vor 20 oder 30 Jahren innehatte. Es ist einfach nur noch eine – Anrede.
Das "Du" hat an Intimität verloren
Und ich persönlich empfinde es mit Mitte 30 beinahe als unhöflich, gesiezt zu werden. Sehe ich so alt aus? So spießig? Möchte jemand von Anfang an keine Beziehung auf Augenhöhe mit mir? Und so dürfte es auch vielen anderen Vertretern meiner Altersklasse gehen. Doch bekanntermaßen ändern sich Anredegepflogenheiten regelmäßig. Das allgemeine "Sie" ist eine Erfindung aus dem 16. Jahrhundert. Da stellt sich die Frage: Wenn wir uns irgendwann alle duzen und dann doch einen Unterschied für besonders nahe Menschen machen wollen – welche Anrede nutzen wir dann?

Der Sprachforscher Dr. Gerd Simon, 85, befasste sich während seiner Forschung intensiv mit dem Thema. Er glaubt, dass das "Du" in der deutschen Sprache einst die erste gängige Anrede war: "Das Duzen dürfte in allen Fällen den Anfang gebildet haben", sagt er im stern-Interview. Doch später wünschten sich die Menschen offenbar eine Differenzierung: "Schon im Hochmittelalter taucht im Gerichtswesen das Erzen auf: 'Er, Beklagter, erhebe sich!' Im Spätmittelalter, als man begann, in Kaiser, König, Fürsten etc. die Repräsentanten mehrerer Menschen, sie also als Plural zu sehen, verbreitete sich das Ihrzen. Im 16. Jahrhundert, als Deutschland einen Kaiser hatte, der mehr in Spanien als in der Heimat regierte, setzte sich nach spanischem Vorbild ('usted') das Siezen durch. Das Erzen, das vor allem im Militär Verbreitung fand, wurde erst im Dritten Reich per Dekret abgeschafft", so Simon.
Im Englischen gibt es nur eine Anrede für alle
Anredeformen haben sich in den verschiedenen Ländern auch auf jeweils eigene Weise entwickelt. In England gibt es heute beispielsweise nur noch eine einzige. Dr. Gerd Simon sagt: "Im Englischen wurde das thou sehr früh auf den religiösen Bereich beschränkt ('thou shalt not steal') und in der Alltagssprache durch den Plural you (wörtlich mit ‚ihr‘ zu übersetzen) durchgehend ersetzt. Im Schwedischen setzte sich das Duzen erst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, dafür aber prinzipieller als im Deutschen, durch. Im Französischen kam es noch in den 80er Jahren vor, dass Kinder ihre Eltern mit vous ('Ihr') anreden mussten."
Leben als Trans-Mensch: "Ich hatte sie vorher nie wirklich glücklich gesehen"

Simon hatte lange Zeit eine eigene Theorie zum Siegeszug des "Du": "Früher war ich der Auffassung, dass Entwicklungen wie die vom Siezen zum Duzen zentral mit der Demokratisierung von Gesellschaftsverhältnissen zusammenhängen", sagt er dem stern. "Da bin ich aber unsicher geworden. Schon in den 80er Jahren berichteten mir Studenten, dass sich Studentinnen und Studenten in den MINT-Fächern wieder gehäuft siezten." In den meisten Universitäten dürfte heute die Regel sein, dass Dozent:innen und Studierende sich siezen, die Kommiliton:innen sich untereinander aber duzen.
Hängen Duzen und Demokratie zusammen?
Aber was wird in 50 oder 100 Jahren sein? Werden wir es den Briten und Amerikanern gleichtun und uns mit einer einzigen Anrede für alle zufriedengeben – dann vermutlich mit dem "Du"? "Dass eine kollektive Rückkehr zum Siezen zu erwarten sei, bezweifle ich", sagt zumindest Sprachexperte Gerd Simon. "Aber in Zeiten der Rückkehr zu autoritären Staatsformen kann man ja auch so etwas nicht ausschließen."
Ein bekanntes Phänomen ist, dass junge Menschen irgendwann den Wunsch verspüren, gegen die Regeln der Älteren zu rebellieren. Und wenn die "Älteren" ein allgemeines, freundliches Duztum zum Standard erhoben haben, wäre es somit nicht unmöglich, dass irgendwann sehr reflektierte, sehr modische und sehr entschlossene junge Leute entscheiden, dass sie sich untereinander fortan mit einem freundschaftlichen "Wie geht's Euch heute, liebe Martha-Elisabeth?" begrüßen und erst dann über das letzte Konzert des Enkels von Harry Styles diskutieren werden.