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Fehlgeburt "'Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden' – der Satz haut dich um"

Fehlgeburten, sagt Natascha Sagorski, seien hochpolitisch. Sie erlitt selbst eine. Heute lebt die 37-Jährige mit ihrem Mann und zwei Kindern bei München
Fehlgeburten, sagt Natascha Sagorski, seien hochpolitisch. Sie erlitt selbst eine. Heute lebt die 37-Jährige mit ihrem Mann und zwei Kindern bei München
© Sandra Steh
Jede dritte Frau in Deutschland hat schon mal durch eine Fehlgeburt ein Kind verloren, auch Natascha Sagorski. Jetzt kämpft sie für einen gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten – und gegen das Schweigen.

Frau Sagorski, in Ihrem Buch "Jede dritte Frau" erzählen 25 Menschen von Erfahrungen mit einer Fehlgeburt. Sie schreiben über sich: "Aus medizinischer Sicht war meine Fehlgeburt kein großes Ding. Nur für mich war sie eine Katastrophe."
Reden ist mein Beruf. Aber nach der Fehlgeburt konnte ich erst mal gar nichts sagen. Ich hatte keine Worte mehr. Ich war in der zehnten Schwangerschaftswoche, als ich den schrecklichen Satz hören musste: "Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden." Der Satz haut dich einfach um.

Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?
Mein Mann und ich haben lange Spaziergänge gemacht, gemeinsam geweint und irgendwann auch wieder gelacht. Und mir haben Geschichten von anderen Frauen geholfen. So entstand die Idee für das Buch.

Ultraschallbilder von damals: Der 14. Februar war als Geburtstermin errechnet worden
Ultraschallbilder von damals: Der 14. Februar war als Geburtstermin errechnet worden
© Sandra Steh

Wie schwierig war es, Menschen zu finden, die ihre Erfahrungen teilen wollen?
Ich habe in den sozialen Medien einen Aufruf gestartet und war vom Rücklauf überwältigt. So viele Frauen sagten, wie froh sie seien, dass ihnen endlich jemand zuhört.

Wie reagierte Ihr persönliches Umfeld?
Meine Mutter hatten wir in den ersten Schwangerschaftswochen gesehen und ihr eine Box mit dem Schwangerschaftstest überreicht. Sie freute sich riesig. Die Fehlgeburt hat sie total mitgenommen. Meine Eltern sind geschieden. Weil wir es meinem Vater auch persönlich sagen wollten, ihn in der Zeit aber nicht sahen, wusste er gar nicht, dass ich schwanger war. Er konnte die Fehlgeburt deshalb nur schwer einordnen. Das Buch hat ihm geholfen. Nachdem er meine Geschichte gelesen hatte, rief er mich an. Er weinte und sagte: "Jetzt verstehe ich, was du durchgemacht hast."

Zweieinhalb Wochen nach der Ausschabung sind Sie wieder arbeiten gegangen und zogen nur engste Kolleginnen ins Vertrauen. Am nächsten Tag stand eine weiße Lilie auf dem Schreibtisch.
Das war eine schöne Geste. Ich wusste, da versteht mich jemand. Da sein, einfach zuhören, nicht urteilen. Das hilft.

Was hilft nicht?
Sätze wie: "Es war bestimmt besser so. Da stimmte einfach was nicht mit dem Baby." Oder: "Du wirst bestimmt ein Kind kriegen." In diesem Moment trauert man aber um das Kind, das man gerade verloren hat.

Gab es eine Trauerfeier für das Kind?
Ich habe erst später erfahren, dass die Klinik, in der ich zur Ausschabung war, in jedem Quartal eine Sammelbestattung für Fehlgeburten macht, auch eine Trauerfeier. Da würde ich mir eine bessere Kommunikation wünschen. Mein Mann und ich haben im Herbst einen Termin, bei dem wir das Grab mit einer Trauerbegleiterin besuchen möchten. Ich merke, wie sich ein Kloß in mir bildet, wenn ich daran denke.

Das Sternarmband ist ein Merkmal, an dem Frauen, die eine Fehlgeburt hatten – sogenannte Sternenkind-Mütter – einander erkennen können. Sagorski trägt ihres links
Das Sternarmband ist ein Merkmal, an dem Frauen, die eine Fehlgeburt hatten – sogenannte Sternenkind-Mütter – einander erkennen können. Sagorski trägt ihres links
© Sandra Steh

Ihre Fehlgeburt liegt dreieinhalb Jahre zurück. Haben Sie Erinnerungsrituale?
Der errechnete Geburtstermin war der 14. Februar 2019, also der Valentinstag. Wir erinnern uns an diesem Tag jedes Jahr ganz bewusst an die kleine Seele, die wir verloren haben. Mein Mann legt dann im Garten ein Herz aus Teelichtern, und wir setzen uns daneben. Unsere beiden Kinder sind dabei. Noch sind sie zu klein, um zu verstehen, was passiert, aber ich finde es ganz wichtig, offen mit ihnen über Trauer und Verlust zu sprechen. Sie sollen wissen, dass sie noch ein Geschwisterchen haben, das als Schutzengel über sie wacht.

Sie fordern in einer Petition einen gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten.
Bisher liegt es allein am Arzt, wie lange er eine Frau nach einer Fehlgeburt krankschreibt und ob er sie überhaupt krankschreibt. Wer Pech hat, muss fast schon betteln oder im Extremfall am nächsten Tag wieder am Schreibtisch sitzen. Das darf nicht sein. Es geht auch um einen gewissen Kündigungsschutz für Frauen im ersten Schwangerschaftsdrittel. Manchen Frauen wird kurz nach der Fehlgeburt gekündigt. Die Botschaft ist: Du hast offensichtlich einen Kinderwunsch, du willst also nicht mehr lange bleiben.

Heute hat Natascha Sagorski zwei Kinder. Die Schwangerschaften waren anfangs von der Angst geprägt, erneut eine Fehlgeburt zu erleiden. Heute vertraut sie ihrem Körper wieder
Heute hat Natascha Sagorski zwei Kinder. Die Schwangerschaften waren anfangs von der Angst geprägt, erneut eine Fehlgeburt zu erleiden. Heute vertraut sie ihrem Körper wieder
© Sandra Steh

Sie haben mehr als 38.000 Unterschriften gesammelt, die Petition wurde verlängert bis Mitte September und wird dann zur weiteren Diskussion an den Bundestag weitergereicht. Wie zufrieden sind Sie bisher mit dem Rücklauf?
Sehr. Wir haben auch prominente Unterstützerinnen wie Marie Nasemann, Jana Schölermann oder Anna Adamyan. Es geht auch um Anerkennung: Egal, wann sie ihr Kind verlieren, Mütter brauchen Zeit und Schutz, um diese schlimme Erfahrung zu verarbeiten. In der Politik ist die Zustimmung allerdings eher verhalten. Es stehen nun mal viele andere Themen auf der Tagesordnung. Und Fehlgeburten sind immer noch ein Tabuthema.

Dabei haben doch zuletzt prominente Frauen wie Herzogin Meghan und Michelle Obama über ihre Fehlgeburten geredet.
Das Thema erfährt mehr Aufmerksamkeit. Aber es macht einen großen Unterschied, ob ein Topmodel darüber spricht oder eine normale Frau, die meine Nachbarin sein könnte. Erst wenn das Thema kein Tabu mehr im Alltag ist, werden sich mehr Frauen öffnen und weniger alleine fühlen.

Wieso erzählt im Buch nur ein Mann?
Es war sehr schwer, Männer zu finden. Nur die Hälfte der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, konnte gemeinsam mit ihren Männern trauern. Andere Männer haben sich abgeschottet oder das Ganze lieber bei einem Bier verarbeitet.

Was in den Geschichten anklingt: Es läuft nicht optimal in Praxen und Kliniken.
Sensible Gespräche sollten nicht auf dem Behandlungsstuhl stattfinden. In der Ärzteausbildung sollte vermehrt mit Schauspielern gearbeitet werden, um belastende Situationen zu simulieren und einen sensiblen Umgang zu trainieren. Und es braucht viel mehr frühe Aufklärung über Fehlgeburten: beim Frauenarzt oder schon in der Schule. Fehlgeburten betreffen jede dritte Frau. Und gleichzeitig liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau bei einer weiteren Schwangerschaft ein Kind bekommt, bei 85 Prozent. Diese Informationen müssen ankommen. Dann werden auch die Alleinseins-, Schuld- und Schamgefühle kleiner.

Auch Sie sind nach Ihrer Fehlgeburt wieder schwanger geworden, brachten 2020 einen Sohn zur Welt, vergangenes Jahr Ihre Tochter. Wie viel Angst hatten Sie vor einem neuerlichen Versuch?
Wir hatten einen riesengroßen Kinderwunsch, der war viel größer als die Bedenken. Vier Monate nach der Fehlgeburt war ich wieder schwanger. Aber die Angst war am Anfang enorm. Vor der zweiten Ultraschalluntersuchung hatte ich Panik. Ich war so aufgeregt, dass sie meinen Puls gar nicht messen konnten, mein Kreislauf war abgesackt. Doch es war zum Glück alles top entwickelt. Von dem Moment an habe ich langsam Vertrauen in meinen Körper aufgebaut und darauf, dass sich die kleine Seele in meinem Bauch dieses Mal durchboxen wird.

Erschienen in stern 31/2022

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