Anzeigen und Hausverbote Freibad-Gewalt in Berlin: Das sind die Zahlen hinter den Emotionen

Unter anderem mit Sicherheitsdiensten wollen die Berliner Bäder-Betriebe gegen die Freibad-Gewalt vorgehen (Archivbild)
Unter anderem mit Sicherheitsdiensten wollen die Berliner Bäder-Betriebe gegen die Freibad-Gewalt vorgehen (Archivbild)
© Paul Zinken / DPA / Picture Alliance
Immer mehr Freibad-Gewalt in Berlin! Dieser Eindruck drängt sich angesichts der Diskussionen der vergangenen Tage auf. Der Blick auf die Zahlen zeichnet ein anderes Bild – vollständig ist dies aber auch nicht.

Es ist das Aufregerthema dieser Tage – wie auch schon in den Vorjahren: die Gewalt in Freibädern, vor allem in Berlin. Ein Brandbrief der Mitarbeiter des Columbiabads, ein eilig beschlossenes Maßnahmenpaket der Berliner Bäder-Betriebe, sogar Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich zu dem Thema. Auch der stern und stern TV berichteten umfassend.

Zahlen zu Freibad-Gewalt in Berlin

Entgegen der öffentlichen Debatte zeigen die offiziellen Zahlen jedoch, dass es in puncto Freibad-Gewalt in Berlin in den vergangenen Jahren keine dramatische Eskalation gegeben hat, eher im Gegenteil. Die Antwort des Berliner Senats auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Abgeordnetenhaus vom Mai zeigt, dass die Polizei im Jahr 2022 insgesamt 57 Gewaltdelikte in den rund zwei Dutzend Freibädern der Hauptstadt registriert hat – mehr als in den Corona-Jahren 2020 und 2021, aber etwas weniger als in den beiden Jahren davor. Zu den Gewaltdelikten zählen zum Beispiel Straftaten wie Körperverletzungen oder sexuelle Übergriffe.

Jahr

2018

2019

2020

2021

2022

Anzahl der registrierten Gewaltdelikte

77

71

12

13

57

Die Zahlen werden jeweils zum Saisonabschluss erhoben, erklärte ein Sprecher der Berliner Polizei am Dienstagmittag im Gespräch dem stern. "Für 2023 liegen die Daten demnach noch nicht vor. Über einen möglichen Trend können wir daher nicht nichts sagen."

Klar ist jedoch: Auch in diesem Jahr ermittelt die Hauptstadt-Polizei bereits wegen etlicher Gewalttaten in den Freibädern. Erst am vergangenen Sonntag wurde ein 32-Jähriger im Kreuzberger Prinzenbad bewusstlos geschlagen. Zwei jugendliche Tatverdächtige konnte die Polizei identifizieren, ein weiterer flüchtete unerkannt.

Und auch über eines können die auf den ersten Blick gering wirkenden Zahlen der Gewaltdelikte in den vergangenen Jahren nicht hinwegtäuschen: Beschäftigte der Berliner Bäder-Betriebe fühlen sich von der Lage am Beckenrad bisweilen überfordert und von ihrem Arbeitgeber alleingelassen. Das belegt der Hilferuf von Mitarbeitern der Brennpunkt-Badeanstalt Columbiabad im Stadtteil Neukölln, den der "Tagesspiegel" jüngst öffentlich machte. Täglich werde die Haus- und Badordnung "vorsätzlich missachtet", heißt es darin. Die erfassten Straftaten sind dabei offenbar nur die Spitze des Eisbergs. "Die Menge der Vorfälle und das Verhalten einiger Badegäste stellen für unsere sehr engagierten Mitarbeitenden in den Bädern in der Summe eine extreme Belastung dar. Das ist auf Dauer so nicht tragbar." Regelmäßige gebe es Bedrohungen oder Beleidigungen gegen das Personal. "Verbale Attacken, das Spucken oder Pöbeln" seien üblich. "Wir haben um Hilfe gebeten, es wird viel geredet, aber es passiert nichts. Wir können nicht mehr." In der vergangenen Woche meldeten sich so viele Columbiabad-Mitarbeiter krank, dass das Bad schließen musste. Inzwischen ist es wieder geöffnet.

"Rein ermittlungsmäßig ist da in vielen Fällen wenig zu holen"

Dass die bloße Anzahl der registrierten Gewaltdelikte allein nicht ausreicht, um das Problem umfassend zu beschreiben, verdeutlicht ein Blick auf die Zahl der Hausverbote, die die Berliner Bäder-Betrieb ausgesprochen haben, die offenbar deutlich niedrigschwelliger verhängt als Strafanzeigen gestellt werden. Ein Gewaltexzess ist jedoch auch anhand der Zahl der Hausverbote nicht festzustellen. Auch sie liegt für 2022 unter den Werten der Vor-Corona-Jahre 2018 und 2019. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass sich die Zahlen auf alle Bäder in der Hauptstadt, also auch auf die Hallenbäder, beziehen.

2018

2019

2020

2021

2022

Verstöße gegen die Haus- und Badeordnung

309

183

48

27

54

Beleidigungen

94

91

12

10

10

Störungen im Bereich der Rutschen

28

5

-

-

5

Leistungserschleichungen

66

51

17

18

39

Körperverletzungen

25

42

-

1

7

Bedrohungen

16

31

-

-

6

Diebstähle

11

10

-

-

-

Sexualdelikte

10

10

1

1

2

Nötigungen

-

-

-

-

1

Sachbeschädigungen

5

-

-

-

7

Drogendelikte

-

-

-

1

1

Sonstiges

8

9

1

13

1

Summe

572

432

79

71

133

737 der insgesamt der rund 848 Hausverbote (87 Prozent) der vergangenen fünf Jahre wurden den Angaben zufolge in den Frei- und Sommerbädern ausgesprochen; Spitzenpositionen nehmen dabei das Sommerbad Pankow (211), das Sommerbad am Insulaner (102) und das Columbiabad (94) ein.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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"Wenn sich im Freibad 20 junge Menschen schlagen, dann ist das für den Badebetrieb eine nicht zu tolerierende Angelegenheit, weil es alle verunsichert und massiv stört", ordnet die Berufsvereinigung Polizei Grün bei Twitter die Debatte über die Freibadgewalt ein. Strafrechtlich bleibe dagegen "meist wenig übrig". Gründe seien unter anderen, dass anschließend oft kaum einer etwas gesehen haben will, keine Strafanträge gestellt würden, es Probleme bei der Zuordnung von Tatbeiträgen gebe und viele Taten wechselseitig begangen würden. "Rein ermittlungsmäßig ist da in vielen Fällen wenig zu holen."

Ob der Sommer 2023 als Sommer der Berliner Freibad-Gewalt in Erinnerung bleiben wird, ist noch nicht abzusehen – die Saison ist in vollem Gange. Und auch die reinen Zahlen werden darüber nicht Auskunft geben können. Die Berliner Bäder-Betriebe und die Landespolitik versuchen jedenfalls vorerst, mit Sofortmaßnahmen weitere Gewalt an den Beckenrändern zu stoppen. Besucher müssen sich nun am Eingang ausweisen, ein personalisierter Einlass ist in Vorbereitung. Hausverbote sollen konsequenter um- und durchgesetzt werden, das Sicherheitspersonal wurde verstärkt. Bei drohender Überfüllung sollen früher als bisher Einlassstopps verhängt werden. Und auch die Polizei will vor und in den Bädern mehr Präsenz zeigen.

Bis auf den tätlichen Angriff im Kreuzberger Prinzenbad am Sonntag meldete die Polizei seit Inkrafttreten der neuen Regeln keine Zwischenfälle. Die Berliner Bäder-Betriebe zogen eine positive Bilanz des vergangenen Bade-Wochenendes mit Ausweispflicht. "Die Kundinnen und Kunden zeigten überwiegend viel Verständnis für die Maßnahme", hieß es. Johannes Kleinsorg, Chef des städtischen Unternehmens, sagte: "Gemeinsam ist es uns gelungen, an diesem Hitze-Wochenende vielen tausend Menschen einen schönen Tag in einem der Berliner Freibäder zu gewährleisten."