Vor zehn Jahren Gefangen im Riesending: Chronik einer dramatischen Rettung

Am 19. Juni 2014 bargen Helfer den Höhlenforscher Johann Westhauser aus den Tiefen der Riesending-Höhle. Der stern erzählt die dramatischen Tage aus Sicht jener, die nahe bei dem schwer verletzten Forscher waren.
Ein Helikopter der deutschen Bundespolizei bringt den Verletzten am 19.06.2014  nach der Erfolgreichen Rettung ins Krankenhaus
Endlich geborgen: Ein Helikopter der deutschen Bundespolizei bringt den Schwerverletzten ins Krankenhaus 
© Nicolas Armer / Picture Alliance / DPA

Dieser Text stammt aus dem stern-Archiv. Er erschien zuerst im Juni 2014. Anlässlich des zehnten Jahrestages der Rettung veröffentlichen wir ihn an dieser Stelle erneut. 

Am Ende bilden seine Retter auf dem Untersberg spontan ein Spalier und reichen die Trage mit Johann Westhauser, 52, von einem zum nächsten, wie einen Schatz, den jeder noch einmal berühren möchte. Es ist der 19. Juni, ein Donnerstag, gegen Mittag. Vom Steinschlag, der den Höhlenforscher in der Riesending-Höhle traf, bis zu diesen letzten 150 Metern zum Helikopter, der ihn in die Klinik nach Murnau fliegen wird, war Westhauser nie allein. Sie haben ihn gepflegt, getragen, beschützt. Diesem Umstand verdankt er sein Leben. 

Eine Menschenraupe schleppt ihn nun den letzten Anstieg hinauf. Sollte es einen Beleg dafür brauchen, dass Europa auch bedingungslos solidarisch funktionieren kann, muss man sich nur diese Bilder vom Untersberg ansehen: Mehr als 700 Helfer aus Slowenien, Kroatien, der Schweiz, Österreich, Italien und Deutschland, viele von ihnen ehrenamtlich, haben zusammen ein kleines Wunder geschaffen. Als der Hubschrauber startet und abdreht, fallen sie sich in die Arme, weinen, gerührt und erschöpft. Sie haben ein Menschenleben gerettet.

Retter, die die Trage mit dem verletzten Höhlenforscher Johann Westhauser zum Hubschrauber tragen
Für den letzten Anstieg zum Hubschrauber reichen die Helfer die Trage mit Westhauser von Hand zu Hand
© Markus Leitner / Bergwacht Bayern / AP

Riesending-Höhle, 8. Juni 2014, 1.30 Uhr

Zusammen mit Ulrich M. und Thomas M. ist Johann Westhauser am Samstag in die Höhle hinabgestiegen. Die drei Höhlenforscher der Cannstatter Gruppe Lehmpfuhl haben weitere Seile eingebaut und ein neues Schlauchboot an die "Reitertränke" gebracht, einen See auf dem Weg zum Biwak 6, den man nur mit einem Boot überqueren kann. Auf dem Rückweg müssen sie durch eine Halle. Eine große Halle, deren Gewölbe wie eine umgedrehte Tasse aussieht. Man kann sie nur durch einen Gang an der Decke in 20 Meter Höhe betreten und verlassen, indem man sich abseilt oder per Seil heraufzieht. Sie sind hier in fast 1000 Meter Tiefe.

Thomas M. ist der Erste, der an diesem Sonntagmorgen gegen 1.30 Uhr in den Gang klettert, nach ihm soll Westhauser folgen. Sie sind sich der Steinschlaggefahr bewusst und gehen behutsam vor. Doch als sich Westhauser unten einseilt, löst sich ein Stein oberhalb von Thomas M., rauscht im Gang an ihm vorbei, stürzt in die Halle und trifft Westhausers Helm. Seine Kameraden sehen sofort: Er ist schwer getroffen, bewusstlos, kann nicht weiter. Sie schneiden ihn aus dem Seil, betten ihn in ein Notlager, dann macht sich Ulrich M. auf den Weg nach oben. Für Thomas M. beginnt ein langes Warten neben seinem schwer verletzten Freund.

Erschienen in stern 27/2014