Für Premierminister Tony Blair ist es "die neue englische Krankheit". Das "binge drinking" - schnelles Trinken bis zum Umfallen - ist nach Einschätzung der Regierung zur Bedrohung der öffentlichen Ordnung geworden. Besonders Frauen und Jugendliche tragen dazu bei, dass Großbritannien in Europa Meister im "Saufen" ist. Die Folge sind zunehmende Randale, Kriminalität und Gewalt, die den Durchschnittsbürger verschrecken. "Wir können nicht länger hinnehmen, dass unsere Stadtzentren am Wochenende zu Sperrzonen werden", warnte Innenminister David Blunkett.
Eine von ihm in diesem Sommer gestartete Initiative, bei blitzartigen Polizeikontrollen in Pubs und Bars alkoholisierten Rowdys an Ort und Stelle das Handwerk zu legen, hatte Erfolg: Innerhalb von vier Wochen wurden 1900 Geldstrafen wegen alkoholbezogener Straftaten verhängt. Um asoziales Verhalten einzudämmen, hat die Regierung Berater entsandt, die Städten und Gemeinden im Umgang mit alkoholbedingter Gewalt helfen sollen.
14 Millionen Tage "blau gemacht"
Ein von der Regierung beauftragtes Expertengremium hat errechnet, dass der britischen Volkswirtschaft jährlich 14 Millionen Arbeitstage durch alkoholbedingte Krankheiten oder "Blau machen" verloren gehen. Der Produktivitätsverlust wird auf rund 6,5 Milliarden Pfund (9,75 Milliarden Euro) beziffert. Nochmal rund 10 Milliarden Euro werden in die Reparatur von Sachschäden gesteckt.
Der staatliche Gesundheitsdienst (NHS) gerät durch den Alkoholkonsum ganz besonders unter Stress. "Zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens stehen 70 Prozent der Notfälle in Verbindung mit Alkohol", stellt der Bericht fest. In London sind an Wochenenden zwei Drittel aller Rettungswagen in Sachen Alkoholmissbrauch unterwegs, berichtete der "Observer".
Kampagne für "verantwortungsvolles Trinken"
"Nach fünf Bier bin ich angeheitert und nach acht sturzbetrunken", offenbarte die 18 Jahre alte Jahre Kosmetik-Studentin Kayleigh vor kurzem im "Daily Mirror". Für Kayleigh ist es normal, drei Mal in der Woche am Abend mit Freunden auszugehen und zehn bis zwölf Flaschen Budweiser oder Stella zu trinken. "Das geht glatt runter, denn wir lachen und haben viel Spaß dabei", sagt sie. Kopfschmerz, Übelkeit und Blackouts seien regelmäßig die Folge, gibt Kayleigh zu.
Kayleighs Verständnis von Spaß wird nach neuesten Statistiken von immer mehr Jugendlichen - besonders Frauen - geteilt. "Das Saufen gehört für viele fest zur Wochenendkultur", sagte ein Experte dazu. Der Anteil junger Frauen zwischen 16 und 24, die mehr als 35 Alkoholeinheiten (1 Einheit entspricht einem Glas Wein oder 1/2 Liter Bier) pro Woche trinken, hat sich nach jüngsten Erhebungen seit 1998 verdreifacht. In Anlehnung an Kampagnen gegen den Alkohol am Steuer oder das Rauchen soll jetzt eine landesweite Aufklärungskampagne gestartet werden, die Frauen zum "verantwortungsvollen Trinken" erziehen soll. Das ""binge drinking" gefährdet Ihre Schönheit", heißt es auf Plakaten und Postkarten, die in Pubs, Bars und Cafés aushängen. Saufen, so wird erklärt, "trocknet die Haut aus und unterbricht ihren Schönheitsschlaf". Eine Webseite klärt über die Folgen für Schönheit und Figur und die noch viel schlimmeren Konsequenzen für die allgemeine Gesundheit auf.

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Trotzdem soll rund um die Uhr ausgeschenkt werden
Kritiker der Regierungspolitik bemängeln, dass Jugendliche gebrandmarkt werden sollen, während zahlreiche Wirte und Getränkeläden illegal Alkohol an Minderjährige verkaufen. Auch die in Großbritannien weit verbreitete "Happy Hour", während der am frühen Abend Getränke zum halben Preis angeboten werden, kommt zunehmend unter Beschuss. Im Londoner Stadtteil Richmond haben sich Wirte jetzt erstmals mit dem Stadtrat darauf geeinigt, die Werbung für die so genannte "glückliche Stunde" einzustellen.
Anti-Alkohol-Gruppen werfen der Regierung vor, mit der geplanten Aufhebung der traditionell strikten Begrenzung der Ausschankzeiten ihre eigenen Bemühungen zur Eindämmung des Alkoholproblems zu unterwandern. Anstelle der "Last Orders" soll nach dem Willen der Regierung auch in britischen Pubs schon bald rund um die Uhr ausgeschenkt werden. Selbst Gesundheitsminister John Reid räumte vor kurzem ein, dass der Erfolg im Sinne einer "Veränderung im Trinkgebaren der Nation" nicht garantiert ist: "Bei manchen Entscheidungen ist man eben erst hinterher schlau", sagte er.