Anmerkung der Redaktion: In Absprache mit den Protagonist:innen wird im Text der Begriff "Menschen mit Assistenzbedarf" benutzt. Die Bewohner:innen möchten nicht "Menschen mit Behinderung" genannt werden, weil sie den Begriff "Behinderung" als Eingrenzung empfinden und als unverhältnismäßige Fokussierung auf einen einzelnen Aspekt ihrer Individualität.
"Dann kommt mal mit", sagt Manuela Ogrodnik und läuft durch einen vollgestellten Flur in ihr kleines Reich. Zwei Zimmer, die Wände sind rosa, vor den Fenstern sattes Grün. Mit vorgestrecktem Kinn steht sie im Türrahmen und wartet auf Fragen – dass heute die Zeitung kommt, hat sie gestern von ihrem Betreuer erfahren. Manuela, die von allen nur "Manu" genannt wird, ist über 60 und wohnt seit mehr als 30 Jahren auf dem Erdlandschen Hof, einer Einrichtung für Menschen mit Assistenzbedarf. Von Montag bis Freitag fährt sie mit dem Bus knapp eine Stunde zur Arbeit in eine Behindertenwerkstatt und montiert Thermostate. An ihrem Geburtstag hat sie sich Urlaub genommen. "Alles ganz normal", sagt sie.
Aber was bedeutet "normal"? Mit 28 anderen Menschen lebt Manu in einem alten Bauernhaus. Ihre Namen stehen auf zahlreichen Briefkästen, die sich vor der Haustür aneinanderreihen. In der Einfahrt parken die Autos der Betreuer. 25 Menschen arbeiten auf dem Erdlandschen Hof, rund um die Uhr ist jemand für die Bewohner:innen da. Eine "Wohneinrichtung der Besonderen Wohnform" nennt sich das im Gesetzestext – aber so "besonders" ist es dann doch nicht. Die Bewohner:innen leben in vier Wohngruppen wie in Wohngemeinschaften zusammen. Jede Gruppe hat einen eigenen Flur und teilt sich mehrere Gemeinschaftsräume. Wenn das Abendessen in einer anderen Küche besser riecht, geht man kurzerhand ein Stockwerk nach unten oder oben und isst bei den Nachbarn. Es erinnert an ein Studentenwohnheim – nur dass hier niemand studiert. Die meisten der Bewohner:innen arbeiten wie Manu in Werkstätten, einige sind berentet, einige nicht vermittelbar.

Was der Gesetzestext als "besonders" betitelt ist der Versuch, Menschen mit Assistenzbedarf ein selbstbestimmtes Leben innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen. Der Erdlandsche Hof steht in einer Straße zwischen vielen alten Bauernhäusern, auf einer Wiese gegenüber trainiert eine junge Frau ihr Pferd. "Wir gehören hier genauso zum Dorfbild wie jeder andere", sagt Betreuer Yann Jourdant. Das war allerdings nicht immer so. Er erzählt, dass es viele Vorurteile gab, als das Haus in den 1980er Jahren gekauft wurde und die ersten Menschen einzogen. Das Gebäude wurde bis dahin von Freigängern einer nahegelegenen Justizvollzugsanstalt genutzt – viele Dorfbewohner dachten noch über Jahre, die Bewohner:innen seien eigentlich Häftlinge. Um am Dorfleben teilzuhaben und die Irrtümer auszumerzen, wurden Sommerfeste veranstaltet, man engagierte sich in Sportvereinen und hielt Tiere auf dem Hof – "das schafft Kontakt", sagt Yann. Klar ist aber auch: die Bewohner:innen haben sich selbst integriert. Auf dem Weg zur Bushaltestelle, in der Stadt, beim Einkaufen und im Austausch mit Nachbarn – man kommt ins Gespräch. Wie man es eben macht, wenn man neu ist und Anschluss sucht.
Entwicklung ja, aber nicht im Sauseschritt
Die Leitung des Erdlandschen Hofs, Viola Heid-Dunker, ist stolz auf ihre Einrichtung – das erkennt man sofort. "Wir sind schon etwas Besonderes", sagt sie. Da ist es wieder, dieses Wort, das sie durchweg positiv meint. "Wir haben mehr Zeit als andere Einrichtungen und können individuelle Hilfe anbieten." Als Gegenbeispiel führt sie Einrichtungen mit 150 Bewohner:innen an – riesige Gelände, auf denen die Werkstätten gleich integriert sind. "Dort verlassen die Menschen kaum das Grundstück."
Viola ist es wichtig, diese Wohnform abzugrenzen von ihrer Einrichtung. Wohl auch, um der Kritik zu entgehen, die sich nach den letzten Vorfällen gegen Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf erhebt: Im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen sollen Anfang des Jahres Bewohner:innen des Wittekindshofs ohne richterliche Anordnung eingeschlossen und auf Stühlen fixiert worden sein. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Pflegekräfte, Ärzte und den ehemaligen Leiter des Geschäftsbereichs. Im April dominierte ein Fall aus dem Potsdamer Obelinhaus die Schlagzeilen, in dem eine Pflegerin vier Bewohner:innen getötet und eine fünfte lebensgefährlich verletzt haben soll. In der betroffenen Einrichtung leben 60 Menschen, die von etwa 80 Beschäftigten betreut werden.
Aktivist und Medienmacher Raul Krauthausen hat in mehreren Interviews gefordert, die Strukturen von Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf grundlegend zu verändern, um Gewalt in der Pflege und der Betreuung zu verhindern. Verschiedene deutsche Behindertenbewegungen pochen seit Jahren auf kleinere Wohneinheiten mit maximal fünf Personen, die zentral gelegen sind – eine Annäherung an die "Normalität" der Mehrheitsgesellschaft. Die Strukturen großer Einrichtungen mit ihrer Masse an Bewohner:innen und einer entsprechenden Anonymität, so die Logik, würden Gewalt und Missbrauch begünstigen. Und was sagt man auf dem Erdlandschen Hof dazu? Wie viel "normal" ist gut?
"Es ist ein schönes Ziel, Einrichtungen mit wenig Menschen zu schaffen", sagt Viola, "aber das Personal müsste ja entsprechend da sein." Heilerziehungspfleger und Erzieher würden gesucht, sie wüsste nicht, wie das umsetzbar wäre. Und würden ihre Bewohner:innen das überhaupt wollen? "Ich bin der Meinung, dass die Menschen hier gerne wohnen".
Wie möchtet ihr eigentlich leben?
Im ersten Stock des Hauses wohnt Bianca K. mit ihren Mitbewohner:innen. Es ist schon beinahe Zeit für’s Abendessen. Eine große Schüssel steht auf dem Küchentisch, Bianca schält Möhren und anderes Gemüse hinein. "Es gibt Salat" sagt sie – man erkennt nicht genau, ob sie sich darüber freut. Es ist schwierig, in ihrem Gesicht zu lesen, das immer freundlich aussieht. Bianca erzählt, dass ihr Herz manchmal Probleme macht – auch dabei lächelt sie. Einmal in der Woche trainiert sie ihre Ausdauer bei einer Herzsportgruppe im Dorf und versucht, sich im Alltag mehr zu bewegen: "Heute bin ich ein paar Mal die Treppen auf und ab gelaufen", sagt sie und schaut in Richtung ihres Betreuers, der das wohl nicht überhören soll. Aus der Küche geht Bianca in den langen Flur, von dem die Zimmer der Bewohner:innen abgehen. Jetzt wandelt sich ihr Blick, wird keck und lebhaft. An den Wänden hängen zahlreiche Bilder, die Bianca gemalt hat: Landschaften in bunten Farben, Linien, die mit ruhiger Hand geführt wurden. Vor einiger Zeit hingen sie sogar in einer Galerie in der Hamburger Innenstadt, die sich auf Werke von Menschen mit Assistenzbedarf spezialisiert hat. "Aber die haben keine Bilder mehr von mir. Ich bin einfach zu gut", lautet Biancas Resümee. Tatsächlich wurden ihre Werke für vierstellige Beträge verkauft, erzählt Betreuer Yann später. Bianca lebt hier gerne, das sagt sie ohne zu zögern. Sie hat sich hier eingerichtet, sie wird geschätzt mit ihren Talenten, sie lebt in einer Gemeinschaft, die ihr gut tut.

"Man muss bei diesem Prozess auch an die Menschen denken, die ihn mitmachen", sagt Yann. "Wir haben viele Bewohner:innen, die leben seit der Öffnung der Einrichtung hier – das ist deren Zuhause seit 35 Jahren. Die möchten genau so weiter leben in dieser Wohnform. Eine zu rasante Entwicklung wäre auch nicht gut." Der Erdlandsche Hof hat mit seinen 29 Bewohner:innen einen guten Mittelweg gefunden, so scheint es. Jeder kennt sich hier, aber das Haus ist groß und verwinkelt genug, um sich zurückzuziehen. Es gibt Gemeinschaftsräume für alle und den großen Garten, der im Sommer für Feste genutzt wird, zu denen das ganze Dorf eingeladen ist. Natürlich sind 29 Menschen in einem Haus – unabhängig von seiner Größe – viele. Das sind 29 Menschen mit individuellen Bedürfnissen, mit Assistenzbedarf, mit Ideen und Vorstellungen. Jeden Einzelnen von ihnen zu sehen, das ist die Aufgabe der Betreuer:innen auf dem Erdlandschen Hof – und die Größe scheint gerade richtig, um das noch zu schaffen. "Größer werden wollen wir allerdings nicht", sagt Leiterin Viola.
Manu ist die Bewohnerin, die am längsten auf dem Erdlandschen Hof wohnt. Ob sie gerne anders wohnen möchte? "Nein", sagt auch sie. In ihrem Zimmer hängen Erinnerungen aus vielen Jahren, prall gefüllte Regale stapeln sich bis unter die Decke. Manus Eltern sind schon vor langer Zeit gestorben, ihr Bruder lebt in der Nähe und besucht sie regelmäßig. Jeden Mittwoch geht Manu für sich und die anderen Bewohner:innen Brötchen und Obst kaufen – "das musste ich lernen, früher hätte ich das nicht geschafft", sagt sie. Sie greift einen ihrer Hüte und stellt sich für ein Foto vor das Fenster.
"Möchtest du auch noch einen anderen aufsetzen?"
"Nein, das sind zu viele. So ist es gut."
Und so ist es wohl wirklich gut für sie.

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