Es war mein erster Sommer in Kroatien nach dem Krieg. An manchen Tagen in diesem Sommer 1995 hätte ich mir fast einreden können, vieles sei wie immer, schließlich waren nicht alle Städte zerbombt worden. Dabei war nichts wie immer, vor allem die Menschen nicht.
Einmal stand ich in der Warteschlange eines Tante-Emma-Ladens bei uns im Haus, wollte Milch fürs Frühstück kaufen. Vor mir wartete eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn an der Hand. Plötzlich riss sich der Junge los, er schrie, legte sich die Hände über den Kopf, rannte hinter den Tresen und warf sich auf den Boden unter der Kühltheke. Die Verkäuferin kniete sich zu ihm, sagte: "Hab keine Angst. Sie laden nur die Kisten in den Lastwagen." Ich hatte den lärmenden Lieferwagen vor der Tür nicht mal bemerkt. Der Kleine kroch hervor, rannte zu seiner Mutter, die ihn umarmte, seinen Kopf küsste.
Der Krieg bleibt lange in der Seele
Das ist eine der alltäglichsten und doch mir schmerzhaftesten Erinnerungen aus einem ehemaligen Kriegsgebiet mitten in Europa. Ich komme aus Jugoslawien und damit aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Wenn ich in den ersten Nachkriegsjahren mit meiner kleinen Cousine, die den Krieg vor Ort erlebt hatte, "Du hast drei Wünsche frei" spielte, wünschte sie sich, dass es immer Strom geben soll, man immer Essen kochen kann und sie nachts nicht aus dem Haus müssen. Frieden in Kinderworten.
Wenn jetzt viele Menschen aus Ex-Jugoslawien darauf hinweisen, dass der Krieg in Europa nicht lange her ist, tun sie das, weil sie hoffen, dass ihre Erfahrung zumindest für eines gut ist: um warnen zu können. So werden Überlebende zu Seismografen in Zeiten des Friedens.
Die Schrecken des Kessels sind überall gleich
Es war kein Zufall, dass die Menschen in Sarajevo früh auf die Straßen gingen, als Aleppo eingekesselt wurde. "Wir wissen, wie es euch geht", stand auf einigen Schildern. Die Verzweiflung einer eingeschlossenen Stadt, in der Eltern kurz Milch kaufen müssen und nicht wissen, ob sie ihr Kind wiedersehen: In Europa wird es jetzt wieder viele Kinder geben, die ihre Eltern auf diese Art verlieren.

Jagoda Marinić
Die Schriftstellerin und Politologin Jagoda Marinić („Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) schreibt alle zwei Wochen – im Wechsel mit Micky Beisenherz – im stern.
Wir können nun toben vor Wut und uns Vorwürfe machen, dass niemand Putin gestoppt hat, als er 150.000 Soldaten in Richtung Krieg schickte. Aber wir brauchen die Kraft für Besseres als Selbstkasteiung. Ja, es tut weh, wie sehr der Westen die vergangenen Jahre mit sich selbst beschäftigt war, während die Autoritären die Zeit nutzten, um eine neue Weltordnung vorzubereiten, die sie gewaltvoll herstellen wollen. Die wichtigste Frage jetzt ist aber nicht die, was wir falsch gemacht haben, sondern: Was können wir tun?
Die Ruhe vor dem Sturm wird greifbar
Vielleicht zunächst Verständnis aufbringen: Der Versuch, das Bedrohliche zu verdrängen, ist menschlich. Solange es möglich ist, geben wir uns der Illusion von Normalität hin. In meinem letzten Sommer, in Jugoslawien vor dem Krieg, war alles wie immer. Fast. Obwohl ich erst zwölf war, spürte ich, wie aufgeladen alle waren. Als Sommerkroaten besuchten wir oft andere Familien zum Essen. Bei allen erlebte ich die gleiche Stimmung am Tisch: Bist du nicht meiner Meinung, sind wir Feinde! Vor allem die Männer hatten sich in fast allen Themen radikalisiert. Nur diese latente Aggression war anders als sonst. Wenig später zogen die Männer in den Krieg. Krieg beginnt mit Worten, in den Köpfen.

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Putins Krieg läuft schon lange. Jetzt, da wir ihn nicht mehr verdrängen können, weil Bomben fallen, müssen wir den Frieden verteidigen – und die Räume, in denen wir friedlich reden können. Auch über eine der schwierigsten Fragen überhaupt: Welche Kämpfe müssen wir vielleicht noch kämpfen, wenn wir auf Dauer Frieden wollen?