Herr Décarpes, Sie und Ihre Kommission haben das Recht, alle Gefängnisse in Deutschland zu inspizieren?
Pascal Décarpes: Tatsächlich ist die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter die einzige Institution, die bundesweit Einrichtungen des Freiheitsentzugs besuchen kann.

Zur Person
Pascal Décarpes ist Kriminologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter der "Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter" in Wiesbaden. Die Kommission basiert auf einem Zusatzprotokoll der UN "gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe", das 2006 von Deutschland unterzeichnet wurde. Die Vertragsländer verpflichteten sich, nationale Stellen zu schaffen, die Zugang zu allen Einrichtungen haben, in denen ein Freiheitsentzug möglich ist, dazu zählen auch Altenheime und geschlossene Jugendeinrichtungen
Was haben Sie bei Ihrem Besuch in der JVA Gablingen gesehen?
Beim ersten Besuch der JVA Augsburg-Gablingen im November 2022 hat die Nationale Stelle die derzeit in Rede stehenden Missstände nicht festgestellt, allerdings erhielten wir im Nachgang immer wieder Eingaben. Im Jahr 2024 zeigten die eingesehenen Dokumentationen kritische Bedingungen bei Unterbringungen im besonders gesicherten Haftraum auf.
Wann haben Sie erstmals von Misshandlungen und einem "System der Angst" in Gablingen erfahren?
Wir wurden durch die Beschwerde der ehemaligen Anstaltsärztin auf Missstände aufmerksam gemacht. Diese war mit ausschlaggebend, die JVA Augsburg-Gablingen am 9. August 2024 ein zweites Mal zu besuchen. Im Anschluss an diesen Besuch erhielt die Nationale Stelle zusätzlich vertrauliche Aussagen von Mitarbeitenden.
Diese Ärztin kritisierte, dass Gefangene nackt in die Zellen gesperrt wurden, ohne Matratze auf dem Betonboden sitzen und schlafen mussten, ohne Kopfkissen oder Decke, sie hätten sich wochenlang nicht waschen dürfen. Gehen Sie davon aus, dass es solche Zustände auch schon während Ihres ersten Besuchs gab?
Das wissen wir nicht. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, dies zu ermitteln.
Wie viele "Orte der Freiheitsentziehung" besuchen Sie pro Jahr?
Die Nationale Stelle besucht etwa sechzig Einrichtungen des Freiheitsentzugs pro Jahr. Dabei setzen wir jährlich einen besonderen thematischen Schwerpunkt, dem wir etwa die Hälfte der Besuche widmen. Im Jahr 2024 lag dieser Schwerpunkt auf der psychiatrischen Versorgung im Strafvollzug.
Wie häufig sind Zustände wie in der JVA Augsburg-Gablingen?
Langen Absonderungen im besonders gesicherten Haftraum begegnet die Nationale Stelle immer wieder. Sollten sich die weitergehenden Angaben – insbesondere zu Übergriffen durch Mitarbeitende – bewahrheiten, dann muss ich sagen: So etwas haben wir bisher noch nicht erlebt.

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Kommt es öfter vor, dass Sie von Mitarbeitern einer JVA informiert werden?
Es ist tatsächlich eher selten, dass Mitarbeitende einer JVA die Nationale Stelle direkt informieren. In der Regel stammen Hinweise aus Eingaben von Gefangenen oder anderen externen Quellen. In Gablingen war die Situation jedoch offenbar so gravierend, dass sich Mitarbeitende dazu entschlossen, anonym auf die Missstände hinzuweisen. Solche vertraulichen Informationen sind für unsere Arbeit von besonderer Bedeutung, da sie einen Einblick in interne Probleme ermöglichen.
Sollten die anonymen Hinweise stimmen, wäre dies alarmierend
Kündigen Sie Ihre Kontrollen an?
Besuche des Polizeigewahrsams erfolgen immer unangekündigt. Besuche in größeren Einrichtungen – wie Justizvollzugsanstalten – werden in der Regel einen Tag vorher nachmittags angekündigt, um den Betriebsablauf, Termine und Therapien nicht zu sehr zu stören. Dabei bitten wir stets um vertrauliche Gespräche, beispielsweise mit Seelsorgern, dem Personalrat und der Gefangenenvertretung. Am 9. August 2024 kam die Delegation allerdings unangemeldet in die Anstalt.
Und überraschte damit die JVA. Kurz vor Ihrem zweiten Besuch sollen die Zellen mit Matratzen, Kissen und Decken ausstaffiert worden sein.
Dies wurde uns im Nachgang zum Besuch anonym mitgeteilt.
Fühlen Sie sich von der JVA getäuscht?
Sollten die anonymen Hinweise stimmen, wäre dies alarmierend.
Wie finden Sie heraus, ob Ihnen etwas vorgemacht wird?
Um sicherzustellen, dass wir einen umfassenden Überblick erhalten, der über den Moment des Besuchs hinausgeht, lassen wir uns beispielsweise die Dokumentationen der besonderen Sicherungsmaßnahmen des vergangenen Jahres vorlegen. Dadurch kann unter anderem festgestellt werden, ob bestimmte Gegenstände, die am Besuchstag vorhanden waren, in der Zeit davor auch ausgegeben wurden oder nicht.
Sind Zellen, in denen Menschen tagelang allein zwischen nackten Wänden ausharren, ohne Möbel, ohne Zerstreuung, von einer Kamera observiert, nicht grundsätzlich menschenunwürdig, selbst wenn eine Matratze darin liegt?
Eine tagelange Unterbringung unter solchen Umständen ist menschenunwürdig. In Ausnahmefällen, in der akuten Phase einer Psychose beispielsweise, kann eine Unterbringung in einem Raum ohne gefährdende Gegenstände notwendig sein, damit Menschen sich nicht selbst verletzten können. Allerdings nur für kurze Zeit. Zudem ist in solchen Fällen eine angemessene Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten.
Wie lange konkret?
So kurz wie möglich.
Die meisten Menschen würden vermutlich im "Bunker" schon nach Minuten Panik bekommen.
Dass längere Aufenthalte nicht verhältnismäßig sind, kritisiert die Nationale Stelle regelmäßig in ihren Jahresberichten.
Was heißt länger?
Es gibt Fälle, in denen Gefangene wochenlang im besonders gesicherten Haftraum untergebracht werden und lediglich eine Stunde Hofgang pro Tag haben – ohne Mitgefangene zum Austausch. Dabei sollten sie jeden Tag zwischenmenschliche Kontakte haben, mindestens zu Uniformierten, Psychologen oder Ärzten.
Sie haben den Auftrag, Folter in geschlossenen Einrichtungen zu verhindern, auch in Psychiatrien und in Altenheimen. Wie definieren Sie Folter?
Nach Artikel 1 der UN-Antifolterkonvention versteht man unter Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden. Von Folter im klassischen Sinne kann man in der Regel in Deutschland kaum sprechen. Das Protokoll der Vereinten Nationen richtet sich aber auch gegen "grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe". Zu Verstößen gegen die Menschenwürde kommt es leider auch in Deutschland.
Die zehn Mitglieder der Nationalen Stelle arbeiten ehrenamtlich
Wie schwer ist es für Inhaftierte, jemanden zu finden, der ihnen glaubt?
Das Problem fängt viel früher an. Ein Beschwerdebrief an uns verlangt Mut. Man bittet einen JVA-Beschäftigten um Papier und Stift. Der fragt vielleicht, warum brauchen Sie das? JVA-Mitarbeiter wissen, dass Briefe an die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter weder geöffnet noch gelesen werden dürfen, das wäre ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Wie groß ist die Gefahr von Sanktionen?
Sie sind jedenfalls nicht auszuschließen. Selbstverständlich sagen wir der JVA nicht, von wem wir einen Beschwerdebrief erhalten haben. Allerdings lässt es sich kaum vermeiden, dass auf dem Brief ein Absender steht.
Wie überprüfen Sie die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Häftlingen?
Die Nationale Stelle versucht dies im Einzelfall einzuschätzen. Sie wird besonders aufmerksam, wenn Beschwerden zu einer Thematik sich in einer Einrichtung häufen.
Können Sie mit Gefangenen vertraulich sprechen?
Ja, in der Regel machen wir die Türe zu. Wir sind in der Regel drei Personen pro Besuchsdelegation, zwei ehrenamtliche Mandatsträger und ein hauptamtlicher Mitarbeiter.
Sprachen Sie bei Ihrem Besuch am 9. August in der JVA Gablingen auch mit Gefangenen?
An diesem Besuchstag sprach die Nationale Stelle mit keinem Gefangenen, weil mögliche negative Auswirkungen auf die Betroffenen nicht auszuschließen waren. Darüber hinaus konnten wir durch die Auswertung der Unterlagen zur Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum die benötigten Informationen erlangen.
Wie hoch ist Ihr Budget pro Jahr?
In diesem Jahr 720.000 Euro. Die zehn Mitglieder der Nationalen Stelle arbeiten ehrenamtlich. Außerdem gehören zu unserer Einrichtung fünf wissenschaftliche Mitarbeitende und zwei Angestellte für Sekretariat und Verwaltung.
Es geht um Einrichtungen mit Freiheitsentzug, das Thema hat keine Lobby
Mangels Zuschüssen konnten Sie im ersten Halbjahr 2024 keine Kontrollen mehr machen.
Wir mussten ein paar Wochen komplett aussetzen und konnten insgesamt im vergangenen Jahr weniger Besuche machen. Das ist frustrierend. Die Nationale Stelle ist finanziell schlecht ausgestattet, das wurde auch vom UN-Ausschuss gegen Folter und dem Deutschen Institut für Menschenrechte kritisiert. Die einzige Institution, die überall reingehen darf, kann ihre Aufgabe nicht erfüllen. Inzwischen hat uns die Justizministerkonferenz mitgeteilt, dass wir das fehlende Geld erhalten sollen.
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt, woran liegt das?
Es geht um Einrichtungen mit Freiheitsentzug, das Thema hat keine Lobby.
Bekommen Sie Weisungen?
Nein, unser Mitglieder sind unabhängig, vergleichbar den Richtern. Es gibt niemanden, der ihnen sagen darf, was sie zu tun haben.
Was motiviert Sie persönlich?
Für Menschen da zu sein, die kein Sprachrohr, keine Lobby haben. In einer Institution zu arbeiten, die unabhängig ist.
Verstehen Sie auch die Nöte von Gefängnismitarbeitern, die täglich mit manchmal schwer berechenbaren Menschen zu tun haben?
Natürlich. Es ist kein einfacher Job in einer geschlossenen Einrichtung, ich habe selbst ein Jahr in einer JVA gearbeitet. Deshalb suchen wir auch regelmäßig den Austausch mit dem Personalrat. Wenn Mitarbeitende nicht gut arbeiten können, kann sich das auf die Untergebrachten auswirken.
Die Verpixelung des Intimbereichs beim kameraüberwachten Toilettengang ist immer wieder Thema
Werden Ihre Empfehlungen angenommen?
Sehr unterschiedlich. Man lernt Diplomatie. Wir kommen nicht mit erhobenem Zeigefinger.
Der bayerische Justizminister hat nun eine Kommission eingesetzt, um eine "bessere Balance zwischen Schutzmaßnahmen und Grundrechten" zu finden, und Verbesserungsmaßnahmen angekündigt. Beispielsweise müssten Gefängnisleitungen "unverzüglich berichten", wenn Gefangenen in besonders gesicherten Hafträumen Gegenstände wie Unterwäsche, Kissen oder Decken vorenthalten würden. Kameraaufnahmen vom Toilettengang würden nun in mehreren JVAs verpixelt. Reichen die angekündigten Maßnahmen aus?
Einige der angekündigten Reformvorhaben des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz zur Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum kommen den Empfehlungen der Nationalen Stelle näher. Die Nationale Stelle unterstützt die Einrichtung einer Kommission, die sich mit der Unterbringungssituation im besonders gesicherten Haftraum auseinandersetzt und steht dieser Kommission jederzeit zur Verfügung, um Beobachtungen und Vorschläge zu unterbreiten.
Wo sehen Sie generell Verbesserungen im Gefängnis-Alltag?
Bei der körperlichen Durchsuchung von Gefangenen. In neunzig Prozent der Einrichtungen wird immer noch von Häftlingen verlangt, sich komplett auszuzuziehen. Uns wird manchmal erklärt, das stört den nicht, bisher hat sich keiner beschwert. Mag sein – vielleicht, weil sich die Leute daran gewöhnt haben. Wir empfehlen eine körperliche Durchsuchung in zwei Phasen: erst oben, dann unten. Das ist inzwischen in einigen Einrichtungen vorgeschrieben, in Bremen beispielsweise. Auch die Verpixelung des Intimbereichs beim kameraüberwachten Toilettengang ist immer wieder Thema. In einigen Bundesländern ist diese mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben.