Frau Reichhart, Sie sind Expertin für Resilienz. Wie entsteht die?
50 Prozent unserer psychischen Widerstandsfähigkeit, also der Resilienz, ist genetisch und durch Prägung bestimmt. Die andere Hälfte können wir steuern. Das ist eine gute Nachricht: Zu wissen, dass ich all dem nicht hilflos ausgeliefert bin. Und selbst wenn ich jetzt das Gefühl hätte, ich fühle mich nicht so widerstandsfähig, kann ich Resilienz trainieren. Menschen an sich sind ziemlich widerstandsfähig. Nehmen wir große belastende Ereignisse wie die Corona-Pandemie: Ja, für die meisten Menschen war das ein negativer Stressor, ein psychisch einwirkendes Erlebnis. Trotzdem haben etwa 60 Prozent diese Zeit unbeschadet überstanden, sie hat sich also nicht nachhaltig auf ihre Psyche ausgewirkt.
Was unterscheidet Menschen, die gut durchkommen von den anderen?
Es sind die sogenannten Resilienz-Faktoren. Stellschrauben, an denen Menschen drehen können, um ihre Resilienz zu trainieren. Die wissenschaftliche Evidenz spricht dafür, dass es sechs dieser Faktoren gibt: Selbstregulationsfähigkeit, Sinn- und Wertebasierung, soziales Netz, Optimismus, Selbstwirksamkeit und Lösungs- und Zukunftsorientierung.
Der dritte Faktor ist besonders interessant: das soziale Netz. Ist damit gemeint, dass die Gemeinschaft eines Menschen seine Resilienz stärken kann?
Ja, dafür braucht es ein Umfeld, mit dem wir uns Unterstützung aufbauen – aber in dem wir auch andere Menschen unterstützen. Denn auch das wird mit kraftvollen, Energie spendenden positiven Botenstoffen belohnt.
Anderen zu helfen stärkt die eigene Resilienz? Dabei denken doch viele Leute: "Wenn ich die ganze Zeit für andere da bin, dann frisst das meine Energie. Ich muss mich auf mich selbst konzentrieren. Selfcare!"
Es ist tatsächlich missverständlich. Ich hörte schon öfter Leute sagen: "Ich muss mich doch abgrenzen, ich muss doch Nein sagen, das soll ich doch lernen." Aber es ist wichtig zu unterscheiden, welche Beziehungen mir langfristig guttun und welche nicht – und natürlich auch die Menge. Wenn ich 100 Leuten auf einmal helfen will, ganz persönlich, dann wird mir das nicht gelingen. Dann überfrachtet mich das und ich werde darüber auch wieder gestresst und weniger widerstandsfähig. Wenn ich aber auswähle, was realistisch ist und wie ich meine 24 Stunden und meinen Energiespeicher aufteilen kann, dann tut mir das gut. Es ergibt auch evolutionsbiologisch Sinn.