Kirche Missbrauchsstudie: 672 Gewaltopfer im Bistum Passau

In Passau ist die Missbrauchsstudie vorgestellt worden. (Symbolbild) Foto: Tobias C. Köhler/dpa
In Passau ist die Missbrauchsstudie vorgestellt worden. (Symbolbild) Foto
© Tobias C. Köhler/dpa
Im Bistum Passau sollen sich Kleriker jahrelang an Kindern vergangen haben - vor allem Jungen waren Opfer. Nun gibt es neue Zahlen und Erkenntnisse zu Missbrauchsfällen und deren Vertuschung.

Hunderte Kinder und Jugendliche sollen im Bistum Passau zwischen 1945 und 2022 Opfer von Gewalt durch Geistliche geworden sein – aber das Ansehen der Kirche sollte gewahrt werden. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Universität Passau. Sie zeigt auf, wie das System Kirche Missbrauch und dessen Vertuschung möglich machte, und auch, welche Rolle die Elternhäuser spielten. 

Mindestens 672 Kinder und Jugendliche – vorwiegend Jungen – sind demnach im fraglichen Zeitraum missbraucht und misshandelt worden. Die mutmaßlichen Täter: mindestens 154 Geistliche. Die Taten sollen während der Internats- oder Heimunterbringung, im Religionsunterricht oder beim Ministrantendienst stattgefunden haben. 

Ziel der Studie mit dem Titel "Sexueller Missbrauch und körperliche Gewalt. Übergriffe auf Minderjährige durch katholische Geistliche im Bistum Passau 1945 bis 2022" ist es, sexualisierte Gewalt und andere Formen körperlicher Misshandlung im kirchlichen Raum aufzuarbeiten. Dabei gehe es auch um strukturelle, organisatorische und kulturelle Faktoren, die Missbrauch ermöglicht oder dessen Aufdeckung erschwert haben.

Verantwortlich gewesen seien Denk- und Handlungsweisen innerhalb des Systems Kirche, sagte Studienleiter Marc von Knorring. Diese hätten dazu geführt, dass etliche Bischöfe und Generalvikare "den Schutz der Institution Kirche und der Priesterschaft über das Wohl von Betroffenen stellten". 

Viele Geistliche mutmaßlich Mehrfachtäter 

Bei der Zahl der Opfer können die Wissenschaftler eigenen Angaben nach teilweise lediglich schätzen. Es könnten durchaus doppelt so viele Opfer gewesen sein, vieles liege im Dunkeln. Es erscheine aber plausibel, dass die tatsächliche Zahl der Betroffenen im Bistum Passau über dem Minimalwert von 672 liege, heißt es in dem rund 400 Seiten starken Bericht.

Die 154 Beschuldigten seien etwa 6,4 Prozent der in diesem Zeitraum geschätzt 2.400 tätigen Priester, Diakone und Ordensgeistlichen. 128 dieser Kleriker sollen sich sexuell an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. 86 Prozent der Verdächtigen seien mutmaßlich Mehrfachtäter.

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"Die Betroffenenzahlen sind für das Bistum Passau weniger exakt zu ermitteln." Dies liege unter anderem daran, dass in Quellen oft von Gruppen wie Schulklassen, Ministranten oder Chorkindern die Rede sei, die Übergriffen eines Priesters ausgesetzt gewesen sein sollen. Wie groß die jeweilige Gruppe gewesen sei, dafür gebe es nur wenige oder gar keine Anhaltspunkte. 

Die Studienautoren gehen daher von einer Mindestanzahl von drei Kindern oder Jugendlichen aus, die eine "Gruppe" bilden und allesamt Betroffene von Missbrauch oder Gewalt waren oder sind. 

Familien schauten weg

Herausgearbeitet wird in der Studie, wie schwierig es für Betroffene war, sich Hilfe zu holen. Vertrauten sie sich etwa ihren Eltern an, sei ihn oftmals nicht geglaubt worden. Für viele Eltern sei sexueller Missbrauch durch einen Geistlichen schlichtweg unvorstellbar gewesen – "so dass sie allein die bloße Möglichkeit solcher Geschehnisse überhaupt abstritten". Zudem scheuten Eltern den Gang zur Polizei oder an die Öffentlichkeit, etwa aus Angst vor Ansehensverlust in der Gemeinde. 

Seit der Jahrtausendwende sei auch hier erhöhte Sensibilität zu erkennen. Grenzverletzendes Verhalten werde von Angehörigen als klar inakzeptabel wahrgenommen und zu unterbinden versucht.

Wandel zum Besseren seit der Jahrtausendwende

Die Studie beleuchtet über die Jahrzehnte den Umgang der jeweiligen Bischöfe mit dem Tabuthema Missbrauch. Fazit: Das Bistum Passau zähle zu den deutschen Diözesen, "für die hier bereits das Jahr 2002 als Zäsur im Sinne eines einsetzenden Wandels zum Besseren anzusehen ist". Auch, wenn es eine Weile gedauert habe, bis die Vorsätze in die Tat umgesetzt worden seien.

Ebenfalls seit dieser Zeit sei eine deutliche Steigerung der juristischen Verfolgung von Gewalttaten durch Kleriker im Bistum Passau feststellbar. Anders sei dies gerade in den 1950er Jahren gewesen, als Kirchenvertreter gute Kontakte zu Justizbehörden und medizinischen Gutachtern gepflegt und Absprachen auf Freispruch oder Strafmilderung abgezielt hätten. "Ausreichend kirchenfreundliche Staatsanwälte und Richter standen offenbar zur Verfügung, auch dies seinerzeit ein deutschlandweites Phänomen." 

Eine weitere Zäsur sei das Jahr 2010 gewesen. Der damalige Bischof Wilhelm Schraml habe etwa in öffentlichen Stellungnahmen die "Null Toleranz"-Grenze gegenüber mutmaßlichen Tätern bekräftigt und Betroffene und Zeugen aufgefordert, sich zu melden. Hauptzweck sei jedoch – wie auch in anderen Bistümern – gewesen, "Schaden von der in Bedrängnis geratenen Kirche abzuwenden", so die Studienmacher. Erstmals habe aber mit Schraml ein Passauer Bischof das Leid der Betroffenen und ihre Hilfsbedürftigkeit wie auch die Notwendigkeit von Aufklärung und Prävention angesprochen.

Der amtierende Bischof Stefan Oster baue seit 2014 auf den Bemühungen seines Vorgängers um eine einwandfreie Handhabung von Missbrauchs- und Gewaltfällen auf, heißt es. Anonyme Schreiben sowie Gerüchte würden ernst genommen und geprüft. In Zusammenhang mit einem Altfall habe sich der Bischof jedoch "mehrfach zögerlich" verhalten. Generell gebe es in der Bistumsleitung und dem Ordinariat aber ein Problembewusstsein, als Präventionsmaßnahme einen Verhaltenskodex für Bistumsmitarbeiter sowie seit 2021 eine Aufarbeitungskommission und einen Betroffenenbeirat.

Allerdings sei in einem Fall eine Gemeinde nicht ausreichend über Beschuldigungen gegen einen aus dem Dienst genommenen Priester informiert worden, was Gerüchte und Proteste nach sich gezogen und somit nicht zu Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention beigetragen habe.

Aufarbeitung und Anerkennungsleistungen

Hintergrund der aktuellen Untersuchung ist die im Jahr 2018 veröffentlichte sogenannte MHG-Studie der katholischen Kirche in Deutschland. Diese listete Tausende Missbrauchsfälle, Täter und Opfer auf. In der Folge begannen die Bistümer mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung, darüber hinaus gab und gibt es für Betroffene Anerkennungsleistungen.

Der Leiter der Passauer Studie sagte mit Blick auf die Betroffenen: Solange es Betroffene gebe, die sich von Kirche unangemessen behandelt fühlten, solange das Handeln der Bistumsleitung für viele noch an Transparenz zu wünschen übrig lasse, und solange es in der Gesellschaft an Verständnis für Betroffene fehle, "solange bleibt noch viel zu tun".

Info zur Studie Missbrauchsstudie

dpa