Angeblicher Pull-Faktor Fliehen mehr Menschen, weil sie im Mittelmeer gerettet werden? Neue Studie liefert Erkenntnisse

Seenotrettung und Migration
Das deutsche Seerettungsschif "Humanity 1" liest Migranten im Mittelmeer Mittelmeer auf
© Max Cavallari / SOS Humanity / DPA
Migranten flüchten über das Mittelmeer, weil sie von Rettungsbooten ans Ziel gebracht werden, sagen konservative Politiker. Aber stimmt das wirklich? Ein Forscherteam hat das untersucht.

Drei Jahre lang rettete die Bundeswehr Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer. Ihr Einsatz war Teil einer umstrittenen Operation der EU. 2015 wurden Militärschiffe verschiedener Mitgliedstaaten ins Mittelmeer geschickt, um Schleusern das Handwerk zu legen und in Seenot geratene Flüchtlinge aufzulesen. Vor allem Konservative sahen das kritisch: Die EU würde Menschen aus anderen Ländern damit einladen. Die Marineoperation sei ein weiterer Pull-Faktor, der Migranten nach Europa ziehe.

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Ein internationales Forscherteam hat diesen Vorwurf in einer Studie im Fachblatt "Nature" untersucht und kommt zu einem anderen Ergebnis. "Es gibt keine Verbindung zwischen lebensrettenden Aktionen im Meer und der Zahl der Migranten", sagt Julian Wucherpfenning von der Berliner Hertie School, einer der Co-Autoren der Studie. Dafür analysierten die Wissenschaftler Daten aus der Zeit von 2011 bis 2020 von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der libyschen und tunesischen Küstenwache, der Internationale Organisation für Migration (IOM) und einer Nichtregierungsorganisation, die die Identität von Migranten ermittelt, die im Mittelmeer sterben. Mit einem Modell ermittelten sie die Faktoren für den Aufbruch von Migranten.

Ob Menschen ihre Heimat verlassen, hängt laut Studienautoren maßgeblich von der Lage in den jeweiligen Herkunftsländern ab. Damit decken sich die Ergebnisse mit vorhergehenden Studien, die belegen konnten, dass Menschen wegen der schlechten Wirtschaftslage, Umweltzerstörung, Konflikten und Gewalt fliehen – auch wenn die Wege lebensgefährlich sind.

Die Route von Nordafrika über das Mittelmeer gilt als die weltweit gefährlichste. Seit 2014 haben nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 20.000 Migranten im Mittelmeer ihr Leben verloren oder werden als vermisst gemeldet. Die meisten von ihnen ertranken.

Rettungsmissionen als Pull-Faktor?

Für die Studie wurde der Untersuchungszeitraum in drei Phasen unterteilt. In der ersten Phase von Oktober 2023 bis Oktober 2014 lief die Mission Mare Nostrum der italienischen Küstenwache. Damals wurden etwa 100.000 Migranten im Mittelmeer aus Seenot gerettet. In den Jahren 2014 bis 2016 wurden vermehrt NGOs und private Seenotretter im Mittelmeer aktiv, insbesondere vor der Küste Libyens, ab 2015 dann auch darüber hinaus. Im dritten Zeitraum bis 2020, als auch die EU-Marinemission Sophia startete und endete, habe sich der politische Fokus der Such- und Rettungstrupps verändert, schreiben die Forscher: Die Flüchtlingspolitik wurde restriktiver, es ging vor allem darum, illegale Migranten abzuschrecken. NGOs seien kriminalisiert und als Pull-Faktor für Flüchtlingsströme benannt worden.

Mit Push- und Pull-Faktoren beschreiben Migrationsforscher Gründe, aus denen Menschen ihre Heimat verlassen. Dabei handelt es sich um strukturelle, politische und soziale Faktoren. Zu den Push-Faktoren zählen unter anderem Arbeitslosigkeit, politische Verfolgung oder Umweltkatastrophen. Pull-Faktoren sind dagegen Anreize in anderen Ländern, die das Verlassen der Heimat erst attraktiv machen. Dazu zählen eine stabile politische Lage, soziale Unterstützung, oder berufliche Perspektiven. Die EU und insbesondere konservative Politiker versuchten so den sprunghaften Anstieg von Migranten auf dem Weg nach Europa zu begründen.

Auch Rettungsboote zählen aus politischer Sicht zu den Pull-Faktoren. "Wir können keine Migranten aufnehmen, die von ausländischen Schiffen auf See aufgegriffen werden, welche systematisch ohne vorherige Abstimmung mit den Behörden operieren", sagte der italienische Innenminister Matteo Piantedosi im November 2022. In der hitzigen Debatte um Asylverfahren und die Frage, wer die Menschen aufnimmt, galt die Seenotrettung im Mittelmeer als Lösung für diese europäische Herausforderung. Weil die Migranten auf dem Mittelmeer ohnehin gezielt gerettet würden, würden Schleuser die Sicherheitsmaßnahmen so gering wie möglich halten, um die eigenen Kosten zu senken. Seenotretter würden das Geschäft gleichzeitig ankurbeln und die Reise der Migranten gefährlicher machen. Das könne man nicht zulassen.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Seenotretter retten Leben – aber motivieren nicht zur Flucht

Der aktuellen Studie zufolge bieten Such- und Rettungsaktionen aber keinen Anreiz für Grenzübertritte, auch wenn die Zahlen zu den Ankünften in Europa das Gegenteil nahelegen. Denn: "Rettungsaktionen retten vor allem Leben, aber sie ziehen keine zusätzlichen Migranten an", bekräftigt Studien-Co-Autorin Ramona Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Es sei aber durchaus möglich, dass durch die Seenotrettung mehr Menschen Europa erreichten. Das liegt aber daran, das mehr Menschen in Seenot gerettet würden. Ohne Such- und Rettungstrupps wäre die Zahl der Ertrunken wahrscheinlich höher – und die Zahl der Ankommenden niedriger.

Migrationsströme ließen sich unmöglich über die Seenotretter im Mittelmeer erklären, heißt es in der Studie, in der auch die dürftige Datenlage kritisiert wird. Ankünfte, irreguläre Grenzübertritte und Todesfälle auf der Reise würden immer noch unzureichend registriert. Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass aktuelle Migrationsdaten wenig belastbar sind und weiter über den offiziell verbreiteten Statistiken liegen dürften.