GDL, Verdi und Co. Streikforscher: "Die ruhigen Jahre sind vorbei"

Bahnmitarbeiter im Gespräch mit Fahrgästen
"Das Verständnis der Bevölkerung bröckelt": Bahnmitarbeiter im Gespräch mit Fahrgästen
© Michael Schick / Imago Images
Bahn, Lufthansa, ÖPNV: Überall wird gestreikt. Im Interview erklärt Streikforscher Stefan Schmalz, was die aktuellen Proteste befeuert – und ob in Deutschland bald so oft die Arbeit niedergelegt wird wie in Frankreich.

Herr Schmalz, die Lokführer streiken, auch das Bodenpersonal der Lufthansa, Sicherheitskräfte an Flughäfen und einige Beschäftigte im Nahverkehr haben ihre Arbeit niedergelegt. Entsteht da gerade eine neue Streikkultur im Land?
Die Streiks nehmen zu, das ist ein deutlicher Trend. Häufigkeit und Intensität der Arbeitskämpfe haben sich verändert. Die Streikbereitschaft ist derzeit groß. Ob man aber gleich von einer neuen deutschen Streikkultur sprechen muss, würde ich mal offen lassen.

Erleben wir nicht gerade eine historische Streikwelle?
Würde ich nicht sagen. Mit dem Streikmonitor erfassen wir an der Universität Erfurt, wann und wo im Land gestreikt wird. Festhalten lässt sich: In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es immer mal wieder Jahre mit hohem Streikaufkommen gegeben. Für 2015 sind zum Beispiel besonders viele streikbedingte Ausfalltage von Beschäftigten verbrieft. Jetzt sehen wir eine ähnliche Entwicklung. Nach Angaben von Verdi gab es 2023 fast 1,2 Millionen Streiktage allein von den Mitgliedern dieser Gewerkschaft. Dieser Trend dürfte sich in diesem Jahr fortsetzen.

Stefan Schmalz forscht zur Streikwelle
Stefan Schmalz ist Soziologe. An der Universität Erfurt forscht er unter anderem zu Arbeitskämpfen. Mit dem Streikmonitor werten sein Team und er jährlich das Streikaufkommen in der Bundesrepublik aus.
© Stefan Schmalz

Es ist ja nicht nur der Mobilitätssektor, der aktuell lahmgelegt wird. Am Montag streiken auch die Ärzte an Unikliniken erneut. Man könnte fast den Eindruck bekommen, das halbe Land befinde sich im Arbeitskampf.
Dieses Gefühl drängt sich vor allem deshalb auf, weil die Streiks derzeit in Branchen stattfinden, in denen es direkte Auswirkungen auf die Allgemeinheit hat, wenn die Arbeit niedergelegt wird. Dass die Lokführer keine Züge mehr fahren und die Ärzte an Unikliniken keine Patienten behandeln, betrifft uns mehr oder weniger alle. Die Bevölkerung spürt die Streiks gerade in besonderem Maße. Deswegen haben manche vielleicht den Eindruck, das gesamte Land stehe still. Dabei täuscht das natürlich.