Auf der Parkseite des modernen roten Klinkerbaus harkt eine weißhaarige Dame in blauem T-Shirt ein winziges Gartenstück, das sich der Parkanlage ihres Wohnkomplexes anschließt. Hinter ihrem Garten liegt eine hübsche kleine Terrasse, durch die Terrassentür erscheint ein großzügiges Wohnzimmer mit voll gestopften Bücherregalen.
Dachten, er sei im Urlaub
"Den Verstorbenen haben wir oft beim Essen gesehen", erzählt die freundliche Dame, die mit ihren Mann erst vor kurzem in die St. Vinzenz-Seniorenanlage eingezogen ist. "Als er dann zwei, drei Tage nicht da war, dachten wir, er wäre vielleicht in Urlaub gefahren." Seit zwei Tagen weiß sie, dass der Mann zu diesem Zeitpunkt schon tot in seiner nur wenige Meter entfernten Wohnung lag, und dass davon 10 Tage lang niemand in der Anlage etwas mitbekommen hat. Als letzter Betroffener erfuhr es wohl der Betreiber der Seniorenanlage, das Erzbistum Hamburg.
Der Hausmeister der Anlage war am vergangenen Samstag von einer Nachbarin des Rentners auf den Geruch im Hausflur aufmerksam gemacht worden. Die Polizei fand dann im Bad der Wohnung die bereits stark verweste Leiche des 73-Jährigen. Die Bewohner der Anlage sind auch noch zwei Tage nach der Entdeckung geschockt. "Gott sei Dank sind wir ja noch zu zweit", murmelt die weißhaarige Frau im blauen T-Shirt und wendet sich bedrückt ihren Sträuchern zu. Warum sie als rüstige Frau aus ihrer eigenen Wohnung in die Seniorenanlage gezogen ist, erzählt sie nur noch zögernd: "Naja, man denkt, ja, dass man Hilfe kriegt, wenn mal etwas ist."
Bewohner auf sich allein gestellt
Doch damit liegt diese Dame komplett falsch. In der Seniorenanlage, in der 77 betagte Menschen leben, sind die Bewohner vollkommen auf sich selbst gestellt. Die katholische Kirche als Betreiber wird nach dem Vorfall nicht müde zu betonen, dass in der St.Vinzenz-Seniorenanlage kein betreutes Wohnen angeboten wird.
Wenn die alten Menschen Hilfe, etwa in Form von Pflege benötigen, vermittelt eine Sozialarbeiterin einen externen Pflegedienst oder entsprechend ein anderes Hilfsangebot. Eine Beratung durch die Sozialarbeiterin erhalten aber nur diejenigen Bewohner der Anlage, die mit dem Betreiber einen "Betreuungsvertrag" für 40 Euro monatlich geschlossen haben. "Wenn es ein medizinisches Problem gibt, empfehlen wir, die Notrufnummer 110 zu wählen", stellt der Sprecher des Erzbistums Hamburg, Manfred Nielen, klar.

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Kein Heim, sondern eine Wohnanlage
Der Tod und das zu späte Auffinden des verstorbenen Rentners seien zwar sehr zu bedauern, sagte Nielen. "Aber ich kann zumindest heute noch nicht erkennen, wofür wir als Betreiber die Verantwortung übernehmen sollen." Selbst zu dem Betreuungsangebot gehöre nicht, aktiv in die Wohnungen zu gehen. Bei St.Vinzenz handele es sich um eine Altenwohnanlage, aber nicht um ein Heim, in dem die Menschen versorgt werden, betonte er.
Das soll auch die magere Personalausstattung in der Anlage erklären. Neben der Sozialarbeiterin gibt es einen Hausmeister, der in der Nähe wohnt und zu den Bürozeiten da ist. Um die Wohnungen der Seniorenanlage kümmert sich eine Immobilienverwaltungsgesellschaft. Das Mittagessen liefert ein externer Caterer. Die Sozialarbeiterin hält sich 20 Stunden pro Woche in der Anlage auf, und organisiert in dieser Zeit Freizeitangebote und Gruppengespräche. Werktags bietet sie täglich eine Stunde auch Einzelgespräche an. Diese Frau befand sich zum Zeitpunkt des Todes des 73-jährigen Mannes im Urlaub.
Magere Personalausstattung
"Die Frau Hofmann (die Sozialarbeiterin - Anm. d. Red.) hat viel zu wenig Stunden, sie kann das alles gar nicht schaffen", ist eine betagte Dame überzeugt, die anonym bleiben möchte. "Wir erwarten aber Hilfe, wenn es nötig ist." Dass die Betreuung in der St.Vinzenz-Seniorenanlage einmal vollkommen anders war, erinnert diese Bewohnerin, die seit 13 Jahren in der Anlage lebt, noch sehr genau: "Früher hatten wir hier einen richtigen Pflegedienst mit im Haus, aber der wurde schon vor Jahren abgeschafft", berichtet sie. "Die hatten nicht genug zu tun, und das lohnte sich dann wohl nicht mehr."
Diese Frau ärgert sich aber auch über die Abrechnung: Obwohl die Betreuung wesentlich schlechter geworden sei, müsse sie immer noch die gleiche Summe dafür zahlen, monierte sie. Auch der Ehemann der weißhaarigen Dame im blauen T-Shirt ist mit seinen Vereinbarungen mit dem Betreiber nicht zufrieden. "Wir haben den Betreuungsvertrag abschließen müssen, sonst hätten sie die Wohnung gar nicht bekommen", sagte er.
Konsequenzen für Betreiber werden geprüft
Nielen betonte dagegen, dass sämtliche Maßnahmen des Betreuungsangebotes detailliert in dem Betreuungsvertrag aufgeschlüsselt seien. Etwa ein Drittel der Bewohner hätten keinen Betreuungsvertrag. Zudem könne dieser jederzeit gekündigt werden. Das Erzbistum werde nun nach Lösungen für die offensichtlichen Probleme suchen, beteuerte Nielsen. Auch die Sozialbehörde der Stadt Hamburg hat angekündigt, genau zu prüfen, ob der Vorfall Konsequenzen für den Betreiber haben soll.
"Es soll ja jetzt alles besser werden, das haben sie uns versprochen", sagt auch die freundliche alte Dame im blauen T-Shirt. Und fängt tapfer lächelnd wieder an zu harken.