Die Corona-Pandemie hat in den USA nicht nur bei den Infektions- und Todesfällen für immer neue traurige Rekorde gesorgt – viele Städte melden gleichzeitig so viele Tötungsdelikte wie nie zuvor.
Erst am Montag hatte ein Mann bei einer Serie von Schussvorfällen nahe Denver im US-Bundesstaat Colorado nach Angaben der Polizei mindestens vier Menschen getötet. Der bislang nicht identifizierter Verdächtige starb anschließend selbst bei einem Schusswechsel mit Beamten, wie Polizeisprecher bei einer Pressekonferenz mitteilten.
Der Fall ist nur einer von vielen. Die Gewaltspirale begann auf dem Höhepunkt der Coronakrise im vergangenen Jahr und dauert bis heute an. Experten machen dafür mehrere Faktoren verantwortlich: Die Traumata durch das Virus, ein wirtschaftlicher Aufschwung ohne Teilhabe der Minderheiten und eine rekordverdächtige Flut von Waffen im Land.
Waffengewalt: Wenn aus Wut Mordlust wird
Philadelphia mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern brach in diesem Jahr einen traurigen Rekord aus dem Jahr 1990: Mit mindestens 535 Tötungsdelikten überholte die "Stadt der brüderlichen Liebe" sogar die beiden größten US-Metropolen New York und Los Angeles. "Unsere Stadt hat ein Problem mit der Armut", sagt Dorothy Johnson-Speight, Leiterin der Nichtregierungsorganisation Mothers in Charge. "Diese bedeutet Ernährungsunsicherheit, Wohnungsnot, psychische Probleme und ein unterfinanziertes Bildungssystem".
Johnson-Speight gründete die Gruppe nach dem Tod ihres Sohnes 2003, der mit 24 Jahren in einem Streit um einen Parkplatz ums Leben kam. Mothers in Charge organisiert Seminare, um Wut und Aggressionen unter Kontrolle zu bringen, und hilft Angehörigen von Gewaltopfern. In der Pandemie musste die NGO ihre Aktivitäten jedoch monatelang einschränken. Dies habe die Gewalt "eskalieren lassen", sagt Johnson-Speight. "Wenn man keine Anlaufstelle hat oder nicht weiß, wie man mit Wut umgehen soll, kann es schlimmer werden."
Die Zahlen sind dramatisch: Die Hauptstadt Washington verzeichnete mindestens 211 Morde, aber auch kleinere oder mittelgroße Städte wie Albuquerque mit mindestens 100 Tötungsdelikten, Portland mit mindestens 70 und Richmond mit 80 Morden brachen Rekorde. "Dieses Land hat seinen Verstand verloren", sagt der afroamerikanische Kriminologie-Dozent David Thomas aus Florida.
"Die Leute sind nur noch wütend. Alles ärgert sie. Und dabei scheinen die Mechanismen, wie man mit Frust und Wut umgeht, über Bord gegangen zu sein", sagt der ehemalige Polizist. Vor allem junge Leute und vor allem junge schwarze Männer, "haben diese Wut in sich; sie streiten sich auf Facebook, dann endet es in einer Schießerei", betont Thomas. "Ein Menschenleben ist da wertlos".
"Ich brauche eine Waffe, weil jeder eine hat"
Dorothy Johnson-Speight macht auch den Einfluss des Drill-Rap verantwortlich – eine Art Hiphop mit düsteren, gewalttätigen Themen. In den Videos präsentierten Drill-Rapper zu aggressiver Musik Waffen und sprächen davon, wen sie alles umbringen wollen, sagt sie. Natürlich sei das "Unterhaltung" – aber vor allem gehe es um "Waffen, Waffen und noch mehr Waffen – es ist das Einmaleins des Tötens".

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Kriminalanalytiker Jeff Asher sieht die Hauptursache der neuen Gewaltwelle jedoch im "enormen Anstieg der Waffenverkäufe" seit Beginn der Pandemie. Nach Angaben des Unternehmens Small Arms Analytics & Forecasting wurden im vergangenen Jahr fast 23 Millionen Schusswaffen verkauft – auch das ein trauriger Rekord.
"Jeder hat eine Waffe", sagt der katholische Priester Michael Pfleger, der sich seit über 30 Jahren in Chicago gegen Gewalt einsetzt. "Die Leute sagen, 'ich brauche eine Waffe, weil jeder eine hat'."
Systemisches Misstrauen führt zur Selbstjustiz
Chicago leidet seit Jahren unter Gewalt und Korruption. In diesem Jahr aber hat die Stadt bereits die Marke von 1994 von 800 Gewaltopfern überschritten. Die meisten Opfer sind Afroamerikaner, darunter immer wieder Kinder, die von Querschlägern getroffen wurden.
Einige US-Liberale fordern eine Umschichtung von öffentlichen Finanzmitteln von der Strafverfolgung zu sozialen Programmen. Experten zufolge muss aber auch die Polizei effektiver werden: 2020 wurden nicht einmal 50 Prozent der angezeigten Gewaltdelikte aufgeklärt. "Das ist ein Teil des Problems", sagt Pater Pfleger. "Es gibt keine wirkliche Abschreckung, wenn man nicht erwischt wird".
Für Jeff Asher führt "Misstrauen gegenüber der Polizei und dem Rechtssystem" ebenfalls dazu, "dass Menschen Selbstjustiz üben". Seit der Tötung des Schwarzen George Floyd durch einen weißen Polizisten im Mai 2020 habe sich dieses Misstrauen nur weiter verschärft, sagt er.