Terror gegen Israel Tochter von Hamas-Geisel: "Wir haben uns nie etwas anderes gewünscht als Frieden. Wir haben ihn nicht gebrochen"

Shay Benjamin erinnert an das Schicksal ihres Vaters
Shay Benjamin, 25, beim stern-Gespräch an der Hamburger Außenalster
© David Baum
Shay Benjamin, 25, ist die Tochter des am 7. Oktober entführten israelischen Auto-Mechanikers Ron Benjamin. Sie hat unter anderem bei Hillary Clinton vorgesprochen und tourt unermüdlich durch die Welt, um die Geschichte ihres Vaters zu erzählen. Der stern traf sie in Hamburg.

Frau Benjamin, wie haben Sie den 7. Oktober 2023 selbst erlebt?
Shay Benjamin: Ich war nicht einmal in Israel, sondern gerade auf der Rückreise von einem wunderschönen einmonatigen Urlaub auf den Philippinen. Beim Zwischenstopp in Dubai um fünf Uhr früh telefonierte ich noch mit meinem Vater, der mir erzählte, dass er gerade zu einer Fahrradtour aufbrechen würde. Das war normal, fast an jedem Samstag ist er früh aufgestanden, um große Fahrradtouren an die unterschiedlichsten Orte Israels zu machen. Als ich anderthalb Stunden später in Tel Aviv landete, kamen bereits die ersten Meldungen, dass unser Land angegriffen wird.

Wann war Ihnen klar, dass Ihr Vater Opfer des Terrorangriffs sein könnte?
Ich war von den Nachrichten sehr erschrocken, meine Mutter und meine Schwester waren in einem Schutzraum in der Nähe von Rechovot untergekommen, und mein Vater hatte noch eine Nachricht geschickt, dass er im Kibbuz Be’eri sei. Ich kann Ihnen die Nachricht vorspielen, er wirkte verängstigt, die Raketen flogen über seinen Kopf, und er wusste nicht wohin. Das war um 6.47 Uhr, danach kam keine Antwort mehr. 

Hamas-Geisel Ron Benjamin mit Töchtern
Aus dem Familienalbum: Ron Benjamin mit seinen beiden Töchtern
© privat

Er hätte auch tot sein können. 
Natürlich, das war lange eine Möglichkeit, mit der wir rechnen mussten. Mein Vater ist sehr eng mit mir und meiner Schwester, wir telefonieren ständig, oft fünfmal am Tag. Wenn er nicht antwortet, dann ist klar, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Er ist die Art von Vater, der in der wichtigsten Jobbesprechung ans Handy gehen würde, wenn seine Tochter anruft. Meine Mutter mutmaßte noch, dass er vielleicht in einem Schutzkeller sei und dort keinen Empfang hat. Aber mir war klar, dass etwas geschehen sein musste, ich spürte es förmlich. Wir haben sein Auto per GPS orten können, es stand in einem anderen Kibbuz. Im Internet fand ich eine Telefonliste der Bewohner und fing sofort an, jeden einzelnen anzurufen und zu fragen, ob sie meinen Vater gesehen haben – aber keine Spur. Durch diese Telefonate erfuhren wir, wie krass die Lage eigentlich ist, sie berichteten uns von den Terroristen vor ihrer Tür. 

Sie telefonierten mit den Kibbuz-Bewohnern während des Angriffs?
Ja, denn bis dahin dachten wir, dass es einer der "normalen" Angriffe aus dem Gazastreifen wäre, wir sind es ja gewohnt, dass ständig Raketen auf uns abgefeuert werden, aber nun war klar: Die Terroristen sind im Land. 

 Als würden wir Schiv'a sitzen – über jemanden, der gar nicht tot ist"

Dachten Sie, Ihr Vater wäre tot?
Zu Beginn galten 3000 Menschen als vermisst, nach und nach bekamen die Angehörigen Nachricht, ob jemand ermordet wurde oder entführt. Wir haben mit anderen, die auf der Suche waren und die wir in der Polizeistation getroffen hatten, eine WhatsApp-Gruppe eröffnet, um einander zu informieren. Diese wurde immer kleiner, weil die Menschen nach und nach Todesnachrichten erhielten und die Gruppe verließen. Wir erfuhren 57 Tage lang nichts darüber, wo mein Dad geblieben sein könnte. Wir verließen all die Zeit kaum das Haus, alle möglichen Freunde und Bekannte kamen und wünschten Beileid, es fühlte sich an, als würden wir Schiv'a sitzen – über jemanden, der gar nicht tot ist.

Wann kam die Nachricht?
An Tag 57 erfuhren wir, dass er als Geisel gefangen gehalten wird. Man hat uns nicht erklärt, wie sie es herausgefunden haben, das müsse geheim bleiben, aber sie seien sich zu 100 Prozent sicher, dass er lebe und in Gaza sei. Obwohl das eine Schreckensnachricht war, war ich glücklich, denn er lebte.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Es gibt Berichte von freigelassenen Geiseln, die über Folter und Vergewaltigung sprechen. 
Es sind Horrorberichte, sie verüben sexuelle Gewalt an Männern und Frauen, zwingen sie, sich wie Puppen anzuziehen, um sie zu entmenschlichen, ich habe das alles gehört. Es ist ein Paradox, dass ich dennoch froh war, dass er lebt und es die Möglichkeit gibt, dass er zurückkehrt.

Plakate der Hamas-Geiseln
Mit Plakaten wollen die Angehörigen weltweit auf die Schicksale der Hamas-Geiseln aufmerksam machen
© David Baum

Wer ist Ihr Vater, erzählen Sie bitte von ihm.
Wir sind eine kleine Familie, Vater, Mutter, meine Schwester und ich, wir sind sehr eingeschworen und einander nah. Unser Vater ist auch unser bester Freund. Er ist 53 und liebt Musik, er spielt auch sehr gut Schlagzeug, ein cooler Dad. Ich habe einige Monate in München gelebt, da kam er mich besuchen, und wir sind zusammen aufs Oktoberfest, wir hatten eine unglaublich lustige Zeit und haben gemeinsam Bier getrunken. Auch wenn ich nicht mehr bei meinen Eltern lebe, blieben wir als Familie eng und irgendwie behütet: Bevor ich schlafen ging, kam jeden Tag noch eine Gute-Nacht-Message von meinem Vater. Sie verstehen vielleicht, warum ich so sehr für ihn kämpfe. Seine Mutter, meine Großmutter, ist 93 und betet täglich für seine Rückkehr, sie schafft es kaum, einen Apfel zu essen, weil sie daran denken muss, ob er gerade hungert. 

Wie stehen Sie zur politischen Lage in Ihrem Heimatland, wie sehen Sie die Situation der Palästinenser?
Ich versuche, in meinem Kampf für die Rückkehr meines Vaters nicht politisch zu sein. Ich bin sozusagen Chefin einer One-Woman-NGO, die nur ein Ziel verfolgt: damit aufhören zu können, weil mein Vater frei ist. Was ich sagen kann, ist, dass kein Mensch auf der Welt durchmachen sollte, was wir gerade durchmachen. Ich wünsche auch unseren Feinden nicht, dass sie erleben müssen, was wir erleben, und schon gar nicht, was deren Geiseln durchmachen müssen. Für meine Familie kann ich sagen, dass wir uns nie etwas anderes gewünscht haben als Frieden. Wenn heute nach Waffenstillstand gerufen wird, muss man sagen: Den gab es bis 7. Oktober 2023, es waren nicht wir, die ihn gebrochen haben. 

Demo für die Hamas Geiseln
Jeden Sonntag versammeln sich Hamburgerinnen und Hamburger an der Außenalster, um für die Freilassung der 130 Geiseln der Hamas zu demonstrieren
© Zada Germany

Was würden Sie dem deutschen Vizekanzler Robert Habeck sagen, der wie zahlreiche internationale Staatsleute auf ein anderes Vorgehen in Gaza drängt?
Wer ein Ende der Kampfhandlungen fordert, muss auch die sofortige Freilassung unserer Geiseln einschließen. Es ist die Hamas, die dies zurückweist. Stellen Sie sich vor, Ihre eigenen Eltern wären in der Hand der Hamas und würden in Tunneln vergewaltigt. 

Die meisten dieser Geiseln waren Friedensaktivisten, die sich für die palästinensischen Menschen einsetzten."

Das Internet ist voll von Videos pro-palästinensischer Aktivisten, die demonstrativ Vermisstenplakate der Hamas-Geiseln abreißen, darunter auch die Ihres Vaters. Was empfinden Sie dabei?
Ich verstehe es einfach nicht. Die meisten dieser Geiseln lebten in Kibbuzim, waren Friedensaktivisten, die sich für die palästinensischen Menschen einsetzten. Es waren keine Soldaten, es war kein Krieg, es waren Menschen, die Party machen wollten oder Radfahren. Die Aktivisten haben offenbar mehr Solidarität mit Mördern, Folterern, Vergewaltigern. 

Die amerikanische Philosophin Judith Butler sagte kürzlich, es sei weder ein "terroristischer" noch ein "antisemitischer Angriff" gewesen, sondern "ein Akt des bewaffneten Widerstands".
Jeder muss verstehen, dass die Hamas nichts anderes ist als Isis. Die Gewalt richtet sich jetzt gegen uns, sie werden auch zu Ihnen kommen und ihre Anschläge verüben.

Die Pro-Palästina-Demos werden weltweit größer ...
Menschen rufen "Palestine will be free – from the river to the sea". Ich bin mir nicht sicher, ob ihnen bewusst ist, dass sie damit einen Genozid an der israelischen Bevölkerung ausrufen. Sie glauben einen vermeintlichen Genozid zu bekämpfen, dabei fordern sie den Völkermord an uns.

Finden Sie, dass das Vorgehen der israelischen Armee in Gaza mit den hohen zivilen Opfern, den Millionen Vertriebenen gerechtfertigt ist?
Ich will das nicht bewerten, ich bin keine Politikerin, ich will meinen Vater wiederhaben. Ich möchte den sofortigen Waffenstillstand, sofortigen Frieden, weil die Hamas aufgegeben und unsere Geiseln freigelassen hat. Verstehen Sie, es ist möglich, dass die Sache jetzt in der Minute beendet wird, es liegt an der Hamas. Ich wünsche den Palästinensern, dass sie sich befreien – von der Hamas. Die vielen Opfer gehen auf deren Rechnung, sie werden als zivile Schutzschilde missbraucht. 

Guterres wollte mich nicht einmal aussprechen lassen"

Sie haben viele Politiker gesprochen, darunter Hillary Clinton und UN-Generalsekretär Guterres, dabei für Ihren Vater und die anderen Geiseln interveniert. Wie waren Ihre Erfahrungen?
Ich habe dem Generalsekretär wie auch Clinton gesagt, dass die Freilassung der Geiseln oberste Priorität haben muss und ich Sie dringend bitte, sich dafür einzusetzen. Natürlich brauchen wir Waffenstillstand, aber erst dann. Guterres wollte mich nicht einmal aussprechen lassen. Als ich von meinem Vater erzählte und der Situation, in der die Geiseln sind, hat er so getan, als hätte ich keine Ahnung, wovon ich spreche. Es war keine gute Erfahrung. Ich habe ihm gesagt, er soll endlich seinen Job machen.

Shay Benjamin in der Hamburger Synagoge
Shay Benjamin nach ihrem Auftritt in der Hamburger Synagoge. Sie tourt zurzeit durch Deutschland, um die Geschichte ihres Vaters zu erzählen. 
© David Baum

Wir wünschen Ihnen, dass alles gut ausgeht mit Ihrem Vater. Was denken Sie, wird dann geschehen? Welche Zukunft hat diese Region?
Ich hoffe auf Frieden. Es wird schwer, aber ich glaube, dass es auf beiden Seiten genug Menschen gibt, die in Frieden leben wollen, auch in Frieden mit uns. Ich hoffe und bete, dass es passiert. Aber die Hamas ist leider mehr als eine Gruppe gefährlicher Terroristen, sie ist eine Idee, die nur schwer zu bekämpfen sein wird.