Mensch vor Profit – der Ärzte-Appell Für Patienten bleibt oft wenig Zeit. Fünf Beispiele von Ärzten und Pflegern, die es anders machen

Von Bernhard Albrecht, Isabelle Buckow, Anika Geisler, Nicola Kuhrt und Tobias Schmitz
Beispiele von Pflegern und Ärzten, die trotz Stresses Vorbild sind
Havva Özkan arbeitet auf der Palliativstation des St. Josef-Hospitals in Troisdorf und wurde als Pflegerin des Jahres ausgezeichnet
© Selina Pfrüner/stern
Vor drei Wochen warnten Krankenhaus-Ärzte im stern: Wirtschaftliche Zwänge gefährden ihre Patienten. Trotz alledem leisten Pioniere der Erneuerung täglich Großartiges.

Mensch vor Profit! Das forderten vor drei Wochen in einer stern-Titelgeschichte 215 Mediziner und zahlreiche Verbände. Die Ärzte kritisierten, dass der ökonomische Druck in Kliniken Mediziner bedränge, wirtschaftliche Interessen über das Wohl des Patienten zu stellen. Das Abrechnungssystem schädige die Krankenhäuser und gefährde die Erkrankten – sie könnten nicht sicher sein, dass ihnen die bestmögliche Behandlung empfohlen werde.

Patienten berichteten, was ihnen während eines Krankenhausaufenthaltes widerfahren war. Mitarbeiter aus der Pflege meldeten sich, um Missstände in ihrem Bereich anzuprangern.

Vorvergangene Woche diskutierte stern-Reporter Bernhard Albrecht, der die Titelgeschichte über den Ärzte-Aufruf geschrieben hat, in der Talkshow "Maischberger" die Frage: "Sind Krankenhäuser gefährlich für Patienten?" Weitere Gäste waren unter anderem Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, und Arzt und Comedian Eckart von Hirschhausen.

Interview mit stern-Reporter Bernhard Albrecht: Was ist seit dem Aufruf der Ärzte im stern passiert?
© stern.de
"Mensch vor Profit!": Was der Ärzte-Appell bislang schon bewirkt hat

Trotz aller Widrigkeiten im System gibt es an den rund 2000 deutschen Kliniken zahlreiche Mitarbeiter, die Außergewöhnliches leisten. Etwa spezialisierte Ärzte und Pflegefachkräfte, die die Kranken hervorragend versorgen – fachlich und menschlich. Die sich Zeit nehmen, die Ängste der Patienten ernst nehmen und ihnen auf Augen­höhe begegnen. Oder Wissenschaftler, die unzählige Studien analysieren und die ­Frage beantworten: Welche Behandlung wirkt bei dieser Erkrankung am besten? Und zu guter Letzt: ein Therapeuten-Team, das sich auch um eine besondere Facette des leiblichen Wohls sorgt. Das es nämlich ­geschafft hat, gesundes und leckeres Krankenhausessen anzubieten. Essen, das eben nicht nur der Sättigung dient, sondern Teil der Therapie ist.

Zeit und Zuwendung für Pflege

Havva Özkan arbeitet auf der Palliativstation des St. Josef-Hospitals in Troisdorf und wurde als Pflegerin des Jahres ausgezeichnet

Wenn man Havva Özkan bei der Arbeit begleitet, fragt man sich, warum Menschen erst im Sterben liegen müssen, bevor sie hier­zulande eine angemessene Pflege bekommen. Die 34-Jährige und ihre Kolleginnen kümmern sich auf der Palliativstation des St. Josef-Hospitals in Troisdorf um zehn Patienten, sie sind in jeder Schicht stets mindestens zu zweit. "Im Vergleich zu normalen Klinikstationen sind wir gut besetzt", sagt sie. "Das macht vieles leichter." Das St. Josef-Hospital versucht, den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin für eine Personalausstattung nachzukommen.

Zum Vergleich: Im Schnitt versorgen in Deutschland zwei Pflegefachkräfte 25 Patienten. "Der Personalnotstand ist katastrophal", sagt Özkan.

Trotz der besseren Bedingungen – weniger zu tun hat Özkan nicht. "Aber ich habe Zeit, ich kann den Menschen gerecht werden." Das heißt: Wunden versorgen, Schmerzen lindern, auf Atemnot reagieren. In einer speziellen Weiterbildung hat sie gelernt, die Selbstbestimmung von Schwerstkranken und sterbenden Menschen zu fördern, ihre Lebensqualität zu verbessern, Angehörige zu begleiten und letzte Wünsche zu erfüllen.

Sie weiß, wie wertvoll Gespräche für Schwerkranke sind. Sie kennt die Geschichten ihrer Patienten, die Sehnsüchte, Sorgen und Ängste. "Viele ­wünschen sich einfach jemanden, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt", sagt sie. Dann zieht sie einen Stuhl heran oder setzt sich auf die Bettkante. Sie streichelt den Patienten über den Rücken, hält ihre ­ Hände, schaut ihnen in die Augen und fragt, wie es ihnen geht.

Havva Özkan macht ihren Job so gut, dass sie 2018 zur "Pflegerin des Jahres" gekürt wurde.

Die Essenz des Wissens

Früher, als Jörg Meerpohl noch als Kinderarzt arbeitete, erlebte er immer wieder Situationen, in denen Mediziner unterschied­liche Behandlungen für ein und dieselbe Erkrankung empfahlen. "Damals fragte ich mich, welche Therapie ist denn jetzt besser?", sagt er. "Und wenn die eine ­besser ist als die andere, warum machen es dann nicht alle so?"

Porträt von Jörg Meerpohl
Jörg Meerpohl leitet die deutsche Cochrane Collaboration an der Uniklinik Freiburg. Sein Team erforscht, welche Behandlungen tatsächlich helfen.
© Andree Kaiser/stern

Heute leitet Meerpohl die deutsche Niederlassung der Cochrane Collaboration. Zu seinem Team gehören Biologen, Pharma­zeuten, Statistiker, Informatiker, Ernährungswissenschaftler sowie Fachleute für klinische Studien. Sie alle arbeiten sich tagtäglich durch Berge medizinischer ­Informationen, aus denen sie gemeinsam die Essenz destillieren: Was hilft wirklich? Und warum? Ihre Erkenntnisse sind entscheidend, damit Patienten die wirksamste Behandlung erhalten.

Rund 37.000 Wissenschaftler ar­beiten weltweit für die Cochrane Collaboration, die nach dem britischen Arzt Archibald Cochrane benannt wurde. Systematisch kontrollieren sie die Qualität von Therapien und fahnden nach ­Belegen aus wissenschaftlichen Untersuchungen. Meerpohl und seine Kollegen fassen ihre Erkenntnisse in "Reviews" zusammen, die häufig in die sogenannten Leitlinien einfließen – das sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte. Nicht selten müssen Therapien, die lange für gut befunden wurden, besseren weichen. So wurde etwa herzschwachen Patienten häufig empfohlen, sich zu schonen. Doch vor Kurzem konnte ein Cochrane Review ­zeigen, dass die meisten Betroffenen weiter Sport treiben sollten. Ihre Gesundheit und ihre Lebens­qualität stiegen, wenn sie sich ­bewegten. Ein anderes eindrückliches Beispiel: Bei Kniearthrose glaubten Mediziner viele Jahre, die Spülung des Gelenks, bei der auch ein wenig Gewebe ­abgeschabt wird, sei von Vorteil. Doch dieser Glaube erwies sich als falsch, denn im Vergleich zu Scheinoperationen zeigte sich kein signifikanter Unterschied. Für Kniepatienten enorm wichtig zu wissen, denn diesen Eingriff können sie sich sparen.

Echtes Mitgefühl

Wenn Adelheid Weinzierl von ihren Terminen bei Nadia Harbeck, der Leiterin des Münchner Brustzentrums, erzählt, merkt man, wie angetan sie ist. Schon das allererste Gespräch war besonders: einfache Worte, klare und ehrliche Aussagen, echtes Mitgefühl. Zum ersten Mal fühlte die Patientin sich auf Augenhöhe, ernst genommen in ihrer Furcht. Nach OP und Chemo wird der Krebs nun seit zwei Jahren durch eine Antikörpertherapie in Schach gehalten.

Prof. Dr. Nadia Harbeck (m.), Dr. Friederike Hagemann (l.) und Dr. med Rachel Würstlein (r.) an einem Schreibtisch sitzend
Die Ärztinnen am Brustzentrum der ­ Ludwig-Maximilians-Universität München legen großen Wert darauf, den Patientinnen auf Augenhöhe zu begegnen
© Marek Vogel/stern

Es sind Geschichten wie diese, die Nadia Harbeck glücklich machen. "Dank der Fortschritte in der Tumortherapie können wir heute so viel erreichen. 80 Prozent der Patientinnen sterben nicht mehr an ihrem Brustkrebs", sagt sie.

Am Münchner Brustzentrum werden besonders viele neue Therapien erprobt. Nadia Harbeck zählt zu den deutschlandweit führenden Brustkrebsforscherinnen – daneben hat sie vier Kinder großgezogen. Wie man das unter einen Hut bekommt? Zum Beispiel durch Aufgabenteilung. Seit zehn Jahren nimmt sie kein Skalpell mehr in die Hand. Friederike Hagemann und eine weitere Kollegin haben die chirurgische Leitung übernommen.

Neben Forschung und Therapien auf höchstem Niveau legt das Team großen Wert auf den menschlichen Faktor. Bleibt genug Zeit für Gespräche angesichts einer potenziell lebensbe­drohlichen Krankheit? Harbeck und ihre Stellvertreterin Rachel Würstlein denken viel darüber nach. "Unsere Patientinnen haben unsere E-Mail-Adressen und nach Möglichkeit feste Ansprechpartner während der ganzen Therapie, die den Überblick behalten", sagt Würstlein. Man versuche, alle Fragen binnen 24 Stunden zu beantworten.

Die Ärztinnen repräsentieren den Idealtypus engagierter Mediziner: auf dem neuesten Stand der Forschung, stets ansprechbar, auf Augenhöhe und die Nöte der Menschen im Blick behaltend.

Kämpfer gegen die Keime

In einem unscheinbaren Flachdachbau liegt eine der wichtigsten Abteilungen des Münsteraner St. Franziskus-Hospitals: das Kompetenzzentrum für Mikrobiologie und Hygiene. Chef Wolfgang Treder und sein Team nehmen täglich den Kampf gegen Bakterien, Viren und Pilze auf. Pro Tag kommen im Labor rund 1000 Proben von Patienten an – etwa Blut, Urin und Abstriche. In der Abteilung arbeiten fünf Ärzte, 15 medizinisch-technische Assistentinnen und vier Hygienefachkräfte. Solch ein Labor im Haus, spezialisierte Mediziner, die mit auf Visite gehen – das ist in der Krankenhauslandschaft etwas Besonderes. Sehr viele Klinikkonzerne setzen aus Kostengründen auf externe Labore als Dienstleister. "Das bedeutet allerdings: weitere Wege und Zeitverlust. Aber bei Bakterien und Viren geht es immer um Zeit. Sonst kann es sein, dass die Infektion den Patienten überrollt", sagt Treder.

Dr. Wolfgang Treder hält ein Reagenzglas in der Hand
Wolfgang Treder leitet das Kompetenzzentrum für Mikrobiologie und Hygiene am St. Franziskus-Hospital in Münster – eine preisgekrönte Abteilung
© Carsten Behler7stern

"Geschwindigkeit kann Leben retten." Dass sich die Einrichtung so eine Abteilung für die über 4000 Betten leistet, ist für Treder "ein klares Bekenntnis". Der Mensch gehe vor. "Unser Labor ist in einer guten Situation", sagt er, "wir müssen nicht ­Gewinne um jeden Preis machen. Unser christlicher Träger meint: plus/minus null reicht. Das Ziel ist zuallererst das Wohl des Patienten und nicht die maximale Rendite." Dienst am Patienten statt ­Kostendruck, Effizienzsteigerung und Verschlankung. Die Ausstattung, Schnelligkeit und Teamarbeit machen die Abteilung zum Vorzeigeprojekt. Sie wurde 2018 mit dem Preis des Aktionsbündnisses für Patientensicherheit ausgezeichnet.

Gutes Essen – Als Teil der Therapie

Eine Warmhaltehaube, darunter eine Scheibe Leberkäse, Kartoffelpüree aus der Packung, zerkochtes Gemüse – ­ so kennt man Mittagessen im Krankenhaus. Muss das so sein? "Nein, muss es nicht", sagt Professor Gustav Dobos, ­Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, die zu den ­Kliniken Essen-Mitte gehört. Die Mahlzeiten, die die Patienten dort bekommen, sind reich an Vitaminen und Nährstoffen und kommen ohne chemische Zusätze aus. Vor allem: Sie schmecken.

Das Essen in Essen dient nicht einfach der Sättigung, sondern ist Teil des Therapiekonzepts. "Wir ermutigen unsere Patienten dazu, im Sinne ihrer Gesundheit den eigenen Lebensstil zu verändern. Da wäre es unglaubwürdig, ihnen hier irgendwelchen Fraß vorzusetzen", sagt Dobos. "Krankenhauskost ist in Deutschland oft so schlecht, dass man sie ungesehen wegwerfen könnte. Das Vollwertessen unserer Küche ist so wohlschmeckend, dass sich die ­Mitarbeiter auf das Essen freuen."

Sigrid Bosmann mit einer Patientin in der Lehrküche
In der Essener Klinik für Naturheilkunde bekommen Patienten hervorragende Mahlzeiten
© Carsten Behler/stern

Zu seinem Team gehören die Ordnungstherapeutin Anna Paul und die Ernährungswissenschaftlerin Sigrid Bosmann. Zusammen haben sie das Ernährungskonzept der "mediterranen Vollwertküche" entwickelt: wenig Fleisch, viel Obst und regionales Biogemüse, gesunde Fette.

Um das Konzept etablieren zu können, brauchte es Unterstützung. Zuallererst: einen Geschäftsführer, der verstand, dass gutes Essen der Gesundheit dient. Die Vollwertkost ist etwa 35 Prozent teurer als normale Krankenhausverpflegung. Für diese rechnen deutsche Kliniken ganz grob mit etwa acht Euro pro Patient und Tag. In den Kliniken ­Essen-Mitte sind es elf.

Dazu kam Küchenkoordinator Peter Beer, der in seiner zentralen Küche 1450 Mittagessen pro Tag herstellt – ein Viertel davon Vollwertmahlzeiten – und vier Kliniken beliefert. Er lässt nach der Methode "cook and chill" arbeiten: Mahlzeiten zu 80 Prozent vorgaren, dann auf drei Grad abkühlen, ausliefern und wieder erwärmen. So bleibt das ­Gemüse knackig, und Geschmack und Nährstoffe werden erhalten. Die ­Essener Klinik schult die Patienten auch ganz praktisch durch Kochkurse – ­damit sie auch nach der Entlassung gut und gesund essen.

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