179.179 – das ist die Zahl an Menschen, die in Deutschland im vergangenen Jahr von der Polizei als Opfer häuslicher Gewalt registriert wurden. Das sind 9,3 Prozent mehr als noch 2021, wie die "Welt am Sonntag" unter Berufung auf die Innenministerien und Landeskriminalämter der 16 Bundesländer berichtet. Dazu kommen all die Fälle, die gar nicht erst gemeldet werden, weil sich die Opfer nicht trauen, Anzeige zu erstatten. Als Täter werden dem Bericht zufolge Partner, Ex-Partner und Familienangehörige erfasst. Zwei Drittel der Opfer sind Frauen.
Erst zu Beginn der Woche hatte die Umfrage "Spannungsfeld Männlichkeit" der Organisation Plan International Deutschland eine Kontroverse ausgelöst. Unter anderem hatten darin ein Drittel der Befragten 18- bis 35-jährigen Männer angegeben, es akzeptabel zu finden, wenn ihnen im Streit mit der Partnerin "die Hand ausrutscht". Ebenfalls etwa ein Drittel gab an, schon mal handgreiflich geworden zu sein, um der Partnerin Respekt einzuflößen. Wie aussagekräftig diese Zahlen allerdings tatsächlich sind, wurde im Anschluss der Veröffentlichung heftig diskutiert. Experten bemängelten unter anderem die Methodik der Umfrage.
Zunahme von häuslicher Gewalt in 15 von 16 Bundesländern
Unbestritten hingegen ist dennoch, dass häusliche Gewalt auch hierzulande eine Problem ist. Abzulesen ist das unter anderem in den Kriminalstatistiken. Laut den Zahlen, welche die "Welt am Sonntag" nennt, verzeichnet das Saarland im Vergleich der Bundesländer mit 19,7 Prozent (3178 Opfer) den stärksten Zuwachs. Dahinter kommen Thüringen (plus 18,1 Prozent, 3812 Opfer) und Baden-Württemberg (plus 13,1 Prozent, 14.969 Opfer). Insgesamt melden demnach 15 Bundesländer deutlich mehr Opfer. Deren Zahl sank nur in Bremen (minus 13,6 Prozent, 2615 Opfer). Nordrhein-Westfalen weist 37.141 Opfer (plus 8,5 Prozent) aus.
Auffällig ist, dass im bevölkerungsreichsten Bundesland die Zahl der Körperverletzungen bei häuslicher Gewalt im Fünf-Jahres-Vergleich um 26,2 Prozent gestiegen ist. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte dazu: "Die Zündschnur ist bei vielen Menschen kürzer geworden und der allgemeine Ton rauer. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert." Dies mache auch an den Haustüren nicht Halt. "Zuhause ist mehr Gewalt eingezogen."
Die Daten der Länder fließen dem Bericht zufolge in ein Lagebild ein, das vom Bundeskriminalamt erstmals erstellt wird und am 3. Juli von dessen Präsident Holger Münch, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) in Berlin vorgestellt wird. Zudem lassen sie derzeit eine große sogenannte Dunkelfeldstudie erstellen.
Kampf gegen häusliche Gewalt – staatliche Koordinierungsstelle geplant
"Häusliche Gewalt geschieht oftmals im verdeckten, im privaten Bereich", sagte Paus der Zeitung. "Scham- und Schuldgefühle der Betroffenen führen häufig dazu, dass die Taten im Dunkeln bleiben und nur selten polizeilich angezeigt werden. Dieses Dunkelfeld ist ungleich größer als das Hellfeld." Sie plant auch eine staatliche Koordinierungsstelle, die häusliche Gewalt ressortübergreifend bekämpfen soll.
Faeser fordert mehr Kontrollen der Polizei, wenn diese Täter nach gewaltsamen Übergriffen aus der Wohnung verwiesen hat. "Das muss konsequent kontrolliert werden, damit Täter nicht schnell wieder zurückkehren", sagte die SPD-Politikerin. Denn häusliche Gewalt sei keine Privatsache, sondern ein gravierendes gesellschaftliches Problem. "Gewalt fängt nicht erst mit Schlägen oder Misshandlungen an: Es geht auch um Stalking und Psychoterror."
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Die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, macht Nachwirkungen der Corona-Pandemie für den Anstieg der Gewalt verantwortlich. "Offenkundig hat die angespannte Lebenssituation der Corona-Jahre sich in erhöhter familiärer Gewaltbereitschaft niedergeschlagen", sagte sie der Zeitung.
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik bei der Diakonie, nannte die Zunahme bei den Gewaltopfern erschreckend. "Ein Grund für den Anstieg könnte sein, dass das Bewusstsein für häusliche Gewalt insgesamt gestiegen ist und nach den unsicheren Jahren der Pandemie Frauen jetzt eher Fälle von Gewalt anzeigen", sagte sie der Zeitung.
Wer von Gewalt betroffen ist und sich Hilfe suchen möchte, findet diese bei Organisationen wie dem Weißen Ring, Terre des Femmes oder Frauen gegen Gewalt e.V. Wer nicht persönlich erscheinen möchte oder kann, kann sich beispielsweise über das Opfer-Telefon des Weißen Rings anonym und kostenfrei Hilfe suchen. Die Nummer ist zwischen 7 und 22 Uhr täglich erreichbar unter 116 006.