Genomsequenzierung Auf der Suche nach der nächsten gefährlichen Mutation

Das Coronavirus
Das Coronavirus mutiert ständig. Manche Varianten verschwinden wieder, andere bleiben und sind sogar noch gefährlicher als ihre Vorgänger.
Alpha, Delta und nun Omikron: Wenn das Coronavirus mutiert, wird das häufig zuerst im Labor entdeckt. Genomsequenzierung heißt das Verfahren, mit dem Wissenschaftler das Virus im Blick behalten. Als Vorreiter gilt unter anderem Großbritannien. Aber auch Deutschland ist gut aufgestellt, sagt ein Experte.

Der Tag, an dem Sikhulile Moyo die Omikron-Variante des Coronavirus entdeckte, begann so alltäglich wie jeder andere. Oder zumindest so gewöhnlich wie der Tag eines Virologen mitten in einer globalen Pandemie eben sein kann. An jenem 19. November betete Moyo wie immer mit seiner Familie, schlang sein Müsli hinunter, um anschließend bei Gospelmusik zu seinem Arbeitsplatz am Bostwana Harvard HIV Reference Laboratory zu düsen. Dort überprüften der Virologe und sein Team die PCR-Tests der positiven Coronaproben – auch das reine Routine. Anschließend bereitete das Team das aus den Proben entnommene Erbgut auf, um zu überprüfen, ob sich das Virus nennenswert verändert hat.

Das Verfahren, das Wissenschaftler hierfür anwenden, ist hoch komplex und hat unter dem Namen "Genomsequenzierung" seinen Weg aus den Laboren in die Öffentlichkeit gefunden. Laut Deutschem Zentrum für Infektionsforschung dient diese unter anderem dazu, "Ausbrüche von Krankheitserregern zu untersuchen". In der Pandemie versuchen Forscher mit der Sequenzierung die Weiterentwicklung des Coronavirus zu überwachen. Diese permanente Beobachtung, vergleichbar mit einem Frühwarnsystem, wird auch "Sentinel Screening" genannt. So können etwa neue Virusvarianten identifiziert werden.

Als letzte besorgniserregende Mutante entdeckten indische Forscher die Delta-Variante. Bis Ende 2021 hatte sie sich weltweit durchgesetzt. Ihr Nachfolger ist die Omikron-Variante, die das südafrikanische Forscherteam um Sikhulile Moyo im November entdeckte. Kurz vor Feierabend, als die routinemäßige Sequenzierung durchgelaufen war, machten sie eine besorgniserregende Entdeckung. "Es gab vier Sequenzen, die sehr seltsame Muster zeigten, die wir noch nie zuvor gesehen hatten. Ich fühlte viele Emotionen in meinem Herzen", berichtete Moyo rückblickend im Blatt "Aljazeera". Weitere Untersuchungen gaben dem Team Gewissheit: Eine neue Variante mit mindestens 30 Mutationen am Spike-Protein war im Umlauf.

Sequenziert Großbritannien so viel mehr als Deutschland?

Seitdem hat sich Omikron rasend schnell verbreitet. Auch in Deutschland ist das Virus auf dem besten Weg, sich bis spätestens Mitte Januar zur dominierenden Coronavariante zu entwickeln, schätzt Oliver Harzer, Mediziner und Geschäftsführer des Labors Bioscientia in Ingelheim. Es ist eines von 29 Laboren, die wöchentlich um die 14.500 Sequenzierungen durchführen. Nach Angaben des Laborleiters entfallen etwa 11.000 davon auf sechs größere Privatlabore. "Der Rest verteilt sich auf universitäre Einrichtungen und kleinere Privatlabore im ganzen Land." Laut Bundesgesundheitsministerium übermitteln seit Mitte Januar 2021 103 Labore regelmäßig Sequenzdaten an das RKI.

In Großbritannien, das häufig als Vorreiter bei der Genomsequenzierung genannt wird, führen laut dem National Health Service (NHS) sieben Labore dieses Verfahren durch. Wie viele Corona-Proben wöchentlich sequenziert werden, konnte der NHS auf stern-Anfrage nicht sagen, verwies jedoch auf das Unternehmen Genomic England. Es bündelt 100.000 Projekte, die das Erbgut von Patienten mit seltenen und Tumorerkrankungen untersuchen. Nach eigenen Angaben will das Unternehmen das medizinische Verständnis dafür erweitern, wie Krankheiten funktionieren, wer besonders anfällig ist und welche Therapiemöglichkeiten es gibt.

In Großbritannien hat die Sequenzierung Tradition seit die DNA in den 1950er Jahren von einem Briten und einem Amerikaner an der Universität in Cambridge entschlüsselt wurde. Das kam den Genom-Detektiven besonders während der Corona-Pandemie zugute. Die britische Regierung hat seit Pandemiebeginn zweistellige Millionenbeträge in die Genomanalyse investiert. Ob das Vereinigte Königreich deshalb in Sachen Sequenzierung besser dasteht als Deutschland, ist nicht ganz klar. Eine stern-Anfrage zur Sequenzierung von Corona-Proben konnte Genomic England nicht beantworten und verwies stattdessen auf die Gesundheits- und Sozialbehörde. Eine Antwort steht noch aus. Britischen und deutschen Medienberichten zufolge werden allerdings in Großbritannien um die zwanzig Prozent aller positiven Corona-Tests sequenziert.

Auch eine Ressourcenfrage

Oliver Harzer von Bioscientia kann sich jedenfalls kaum vorstellen, dass die Briten mehr Corona-Proben vollständig sequenzieren als die deutschen Kollegen. "Wenn man weiß, wie komplex und aufwendig dieses ganze Verfahren ist, dann glaube ich eher, dass es hier zu einer Begriffsverwechslung kommt." Man müsse unterscheiden zwischen der Vollgenomsequenzierung (eng.: Whole Genome Sequencing (WGS)), bei der das komplette Virusgenom sequenziert wird, und der Variantentypisierung (Exome Sequencing). Hierbei werden nur die Abschnitte des Virusgenoms untersucht, die die gesuchte Mutation enthalten.

Wie das Bundesgesundheitsministerium auf stern-Anfrage mitteilt, stehen dem RKI in der ersten Januarwoche diesen Jahres insgesamt 464.673 SARS-CoV-2-Gesamtgenomsequenzen aus Deutschland zur Verfügung (Stand: 5. Januar 2022). Diese wurden im Rahmen der Coronavirus-Surveillianceverordnung (CorSurV) erfasst, die im Januar 2021 erlassen wurde. Seitdem sind Labore verpflichtet, die Sequenzierdaten ans RKI zu übermitteln. Darin geregelt ist auch die Vergütung, die Zahl der zu sequenzierenden Proben und wann die Ergebnisse an die offiziellen Stellen übermittelt werden müssen.

Bei der Vollgenomsequenzierung können vom Probeneingang bis das endgültige Ergebnis feststeht zwischen 48 und 72 Stunden vergehen. Deshalb werden ab einer Zahl von 70.000 positiven Corona-Fällen innerhalb einer Woche lediglich fünf Prozent aller positiven Corona-Proben im Labor vollsequenziert. "Das reicht aus, um frühzeitig neue Varianten zu entdecken", sagt Harzer. Bei weniger als 70.000 Fällen werden 10 Prozent der positiven Coronaproben sequenziert. Alles andere wäre ökonomisch nicht sinnvoll und hätte keinen zusätzlichen Nutzen. Das Verfahren dient vor allem der Hintergrundüberwachung. "Am Ende geht es vor allem darum, frühzeitig Varianten zu entdecken, die von Relevanz sein könnten."

Wird beim Vollgenomsequenzieren eine relevanten Variante entdeckt, führen die Labore eine sogenannte Variantentypisierung durch, um zum Beispiel zu erkennen, wie rasch sich die Variante ausbreitet oder ob sich die Krankheitsbilder mit dem Ausbreiten der spezifischen Variante verändern. Harzer erklärt den Unterschied zwischen der beiden Methoden folgendermaßen: "Bei einer Vollgenomsequenzierung lesen wir sozusagen das gesamte Buch, während wir uns bei der Variantentypisierung nur eine bestimmte Seite oder einen Absatz anschauen, auf dem die Mutation, also die kritische Veränderung zu finden ist" – also nur einen gewissen Abschnitt im Erbgut.

Gleichzeitig ist die Menge der sequenzierten Proben auch eine Ressourcenfrage. Eine Vollgenomsequenzierung kostet 220 Euro – angesichts des Aufwandes eher kostengünstig. Geringer fallen die Preise bei der Variantentypisierung aus. Hierauf entfallen pro analysierter Probe zwischen 40 und 50 Euro. Privatpatienten zahlen etwas mehr als Kassenpatienten. Aber vor allem technisch können es sich die Labore nicht leisten, beide Verfahren übermäßig häufig durchzuführen, denn für beides stehen keine separaten Maschinen bereit. Wird eine Vollgenomsequenzierung durchgeführt, sind die Geräte drei Tage lang besetzt, sodass die Variantensequenzierung warten muss.

Sequenzierung – nicht nur wissenschaftlich von Nutzen

Aktuell werden die Corona-Proben auf die beiden Variants of Concern (VoC) Delta und Omikron untersucht. Mithilfe der Variantentypisierung kann festgestellt werden, welche Mutante sich stärker ausbreitet. "Das versetzt die Politik anschließend in die Lage darüber zu entscheiden, welche Schutzmaßnahmen nötig sind und worauf sich das Land vorbereiten muss", sagt Harzer. Sein Labor in Ingelheim wurde zuletzt von den Landesregierungen im Saarland, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Berlin und Hessen mit der Variantentypisierung beauftragt. So können sich die Politiker ein Bild von der aktuellen Verbreitung der Omikron-Variante in ihrem jeweiligen Bundesland machen. "Das ist wichtig, weil sowohl die Landesregierungen entsprechende Länderverordnungen treffen müssen, als auch die Bundesregierung das Bild im Land beurteilen können muss."

Harzer sieht die deutsche Forschungslandschaft in dieser Hinsicht gut aufgestellt. Man habe "als medizinische Leistungserbringer in der Bundesrepublik unter Koordination des RKI und auf Wunsch der Regierung bereits seit Ende des vorletzten Jahres auch eine gute Struktur für das Sentinel-Screening etabliert". Deutschland sei also nicht nachzusagen, dass es dem Ausland hinterherhinke. "Ich denke eher, dass wir da sehr ausgewogen und wissenschaftlich vernünftig vorgehen."

Deutschland musste sich in dieser Hinsicht aber erst entwickeln. Wurden etwa in Dänemark und Großbritannien seit Pandemiebeginn Corona Proben sequenziert, wird dieses Verfahren in der Pandemiebekämpfung erst seit gut einem Jahr in Deutschland gezielt eingesetzt. Damals sagte der Chef-Virologe der Charité, Christian Drosten, noch im NDR-Podcast: "Es reicht aus, pro Woche einige Viren zu sequenzieren." Die Diagnostik stand damals noch mehr im Vordergrund. Das hat sich geändert. Im Frühjahr 2020 forderte die Initiative DeCOI deutscher Wissenschaftler eine bessere Auswertung der Genomdaten. Ein Förderantrag wurde zunächst vom Bundesforschungsministerium abgelehnt, später dann jedoch angenommen.

Mutanten werden auch künftig in den Laboren identifiziert

Zu beobachten wie sich das Virus verändert, ist nicht nur für die Politik von Interesse. Pharmaunternehmen machen von den Informationen Gebrauch, um ihre Impfstoffe zeitnah anpassen und weiterentwickeln zu können.

Dass mit Omikron nun das Ende der Pandemie naht, glaubt Harzer jedoch nicht. Omikron könne aber dazu beitragen, dass sich der pandemische Zustand in einen endemischen entwickelt, weil das Virus infektiöser ist als Delta. "Das wird dafür sorgen, dass noch sehr viel mehr Menschen mit dem Virus infiziert werden und eine gewisse Grundimmunität in der Bevölkerung entsteht", der Laborleiter. Das Virus habe gezeigt, dass es sehr agil ist und schnell mutieren kann. "Warum sollte das aufhören?"

Man müsse sich darauf einstellen, dass künftig neue Varianten auftreten, die insgesamt weniger schlimme Verläufe provozieren. Aber auch Varianten, die zu schweren Verläufen führen, seien künftig nicht auszuschließen. Harzer vergleicht dies mit der Influenza. Auch hier gebe es Jahre, in denen mehr oder weniger Menschen an dem Virus sterben – auch wenn die Zahlen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Corona vergleichbar sind. Allerdings hängt auch hier die Zahl der Fälle von den Mutationen und der Passgenauigkeit des verfügbaren Impfstoffs ab, erklärt Harzer. "Dass die Corona-Pandemie in diesem Jahr endgültig vorbei ist und das Virus verschwindet, damit kann man nach den letzten zwei Jahren nicht rechnen." Zumindest würde es ihn persönlich sehr wundern – "vollkommen ausgeschlossen ist es natürlich auch nicht."

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