Anzeige
Anzeige

Gespräch mit Dietrich Grönemeyer "Die Menschen können viele Dinge selbst machen"

Das Gesundheitssystem bremst die moderne Rückentherapie aus, sagt Prof. Dietrich Grönemeyer. Neben neuester Technik setzt er bei der Behandlung auf Naturheilverfahren - und mehr Eigeninitiative der Patienten.

Für die Behandlung von Rückenschmerzen werden Milliarden ausgegeben, dennoch werden viele Patienten ihr Leiden nicht los. Was läuft falsch?

In der Schulmedizin macht man bei Rückenschmerzen seit 30 Jahren immer das Gleiche: Es wird geröntgt, obwohl man auf dem Bild nur die knöchernen Strukturen sieht. Muskelschwund oder ein Bandscheibenvorfall werden so nicht sichtbar und auch andere Veränderungen nur dann, wenn sie degenerativ sind.

Sollte ein Patient also skeptisch werden, wenn er mit Rückenschmerzen zum Arzt kommt und der erst einmal röntgen lässt?

Bei einem Verdacht auf Wirbelgleiten und nach einem Unfall sollte man röntgen, weil man damit am schnellsten einen Bruch an der Wirbelsäule sehen oder ausschließen kann. Ansonsten ist für mich Kernspintomografie die Methode der Wahl. Sie ist strahlenfrei und nach heutigem Wissen weitestgehend unbelastend. Außerdem werden dabei alle Strukturen sichtbar: die Bandscheiben, der Wirbelkörper, die kleinen Wirbelgelenke, der Rückenmarkskanal, entzündliche Prozesse, tumoröse Prozesse und die Muskulatur. Die Muskulatur ist so wichtig in der Beurteilung des chronischen Rückenschmerzes, dass ich mich wundere, dass sie bis heute in radiologischen Befunden üblicherweise nicht beschrieben wird.

Zur Person

Der Arzt und Professor für Mikrotherapie, studierte Medizin, Sinologie und Romanistik. Er spezialisierte sich auf Radiologie, später auf die Mikrotherapie - eine besonders feine Variante der minimalinvasiven Operationstechnik. Für diese Methode hat der 52-Jährige einen Lehrstuhl an der Universität Witten/Herdecke. In Bochum leitet er das Grönemeyer-Institut für Mikrotherapie, in dem er modernste Gerätemedizin mit Naturheilverfahren verbindet. Im Jahr 2003 erschien sein Bestseller "Mensch bleiben", ein Plädoyer für eine liebevollere Medizin. 2004 veröffentlichte Grönemeyer "Mein Rückenbuch - Das sanfte Programm zwischen High Tech und Naturheilkunde".

Warum ist Röntgen noch immer die Standarduntersuchung und die Kernspintomografie die Ausnahme?

Bei neuen Methoden dauert es in unserem behäbigen Gesundheitssystem in der Regel zehn bis fünfzehn Jahre, bis auch nur neue Ziffern für die Abrechnung generiert werden. Röntgen hingegen kann der Arzt quartalsweise abrechnen.

Für wie wichtig halten Sie denn die Kernspintomografie für eine gute Diagnose?

Neunzig Prozent finde ich heraus, indem ich den Patienten körperlich untersuche und nach dem Charakter des Schmerzes befrage: Wo ist er lokalisiert? Ist er streifenförmig oder breitet er sich diffus aus? Tritt er morgens auf oder abends? Nimmt er bei Wärme zu oder Kälte? Habe ich dann eine Leitlinie im Kopf, ist die Kernspintomografie wichtig, um meine Hypothese zu verifizieren und um zu verhindern, dass ich ein schwerwiegendes Problem übersehe. Ein Beispiel: Jemand hat Rückenschmerzen, wie mein verstorbener Bruder Wilhelm. So wie er mir das geschildert hatte, dachte ich an einen Bandscheibenvorfall. Aber ich habe ihm auch gesagt: "Du musst eine Kernspintomografie machen lassen." Und es stellte sich heraus, dass der Schmerz von einer Metastasierung an der Wirbelsäule herrührte. Es war das erste spürbare Symptom seiner Leukämie. Im Röntgenbild habe ich die Herde nicht gesehen.

Wo findet man Ihrer Meinung nach eine angemessene Behandlung?

Ich denke, ein Patient kann sich da sicher fühlen, wo sich Ärzte im Netzwerk zusammengetan haben, wo also Orthopäden, Radiologen, Neurochirurgen und Physiotherapeuten Hand in Hand arbeiten. Aber auch dort, wo er einen Arzt oder eine Ärztin hat, bei der er darauf vertrauen kann, an die richtige Stelle weitergeleitet zu werden.

Daran scheint es zu mangeln. Jedenfalls stand Ihr Rückenbuch monatelang auf den Bestsellerlisten, und auch bei Vorträgen haben Sie großen Zulauf. Was suchen die Menschen bei Ihnen?

Erstens erwarten - und bekommen - sie Wissen über sich selbst: Wie die Wirbelsäule aufgebaut ist, was sich an ihr abspielen kann, was jeder für sie tun kann. Es gibt da ein großes Informationsdefizit. Das Zweite ist, dass sie hören möchten, was für therapeutische Möglichkeiten es gibt, die sie bisher noch nicht kennen. Ich versuche ja, mich im Spannungsfeld zwischen High Tech und Naturheilkunde zu bewegen und bei den Methoden so sanft wie jeweils möglich vorzugehen. Ich motiviere die Menschen, sich auch selbst zu engagieren: Hilfe zur Selbsthilfe.

Meinen Sie damit Bewegung und Muskelstärkung?

Unter anderem. Der Patient muss eigenverantwortlich seine Möglichkeiten nutzen, um muskuläre Verspannungen zu lösen, also: nicht zur Ruhe kommen, sondern sich wirklich bewegen, sich dehnen, Körperwahrnehmung schaffen: Wo sitzt der Schmerz? Und dann mit Wärme oder Kälte arbeiten und Angebote nutzen von der Massage über Akupunktur, Yoga, Tai Chi und Qigong bis hin zu Selbstbewusstseinsschulungen, Feldenkrais und guten Fitnessstudios.

Bei der Therapie empfehlen Sie die Steigerung von leicht nach schwer. Was sind aus Ihrer Sicht die leichten Methoden?

Viele meiner Patienten interessieren sich für Naturheilverfahren. Wenn ich sehe, sie haben ein Verspannungsproblem, eine aktivierte Arthrose oder eine Blockade eines Gelenkes, empfehle ich zum Beispiel Akupunktur oder Schröpfmassagetechniken. Und Osteopathie. Sie halte ich bezüglich Rückenkrankheiten für eine der besten Entwicklungen der vergangenen Jahre. Aber sie kommt schleppend in Deutschland an, weil sie nicht über die Kasse abgerechnet werden kann.

Wie hoch ist unter Ihren Patienten der Anteil jener, denen mit einer solchen leichten Therapie geholfen werden kann?

Wir haben relativ wenige Akutpatienten und sehr viele mit chronisch-degenerativen Erkrankungen der Gelenke. Die Hälfte von ihnen kann ganz leicht behandelt werden. Bei den anderen müssen wir invasiver werden.

Was verstehen Sie darunter?

Die nächste Stufe sind Injektionen. Nehmen wir die kleinen Wirbelgelenke, da finden wir mit einem Lokalanästhetikum und entzündungshemmenden Medikamenten heraus, ob man mit zwei oder drei örtlichen Behandlungen einen arthritischen Prozess stoppen kann oder vielleicht einen kleinen Nerv veröden muss. Auch bei Bandscheibenvorfällen, die Beschwerden machen, bekomme ich vieles mit unterstützend gegebenen Medikamenten hin, die den Nerv zum Abschwellen bringen. Das Problem bei einem Vorfall ist ja, dass die Bandscheibe den Nerv auf den Knochen drückt. Der produziert Wasser, um sich zu schützen. Es entsteht ein Ödem, das den Raum für den Nerv noch enger macht - und Schmerzen verursacht. Also ist die beste Vorgehensweise, dieses Ödem wegzubekommen und gleichzeitig ein bisschen Wasser aus der Bandscheibe herauszuholen, um sie zu schrumpfen. Das machen wir mit Cortison, das wir lokal spritzen. In mehr als 80 Prozent der Fälle kann der Patient sich schon nach kurzer Zeit wieder bewegen und dann mit rehabilitierenden Maßnahmen wie Krankengymnastik selbst helfen.

Es gibt Ärzte, die dieser Methode sehr kritisch gegenüberstehen. Sie sagen, dass sich Entzündungen bilden können, gerade wenn solche Eingriffe wiederholt werden. Wie begegnen Sie dem?

Es gibt mehrere Aspekte. Viele Patienten berichten: "Es war so schrecklich, in der Nähe des Nervs ein Medikament injiziert zu bekommen, das mache ich nie wieder." Dazu kann ich nur sagen: So eine Injektion darf nicht schmerzhaft sein; und man braucht auch keine Lokalanästhesie am Nerv, damit der Patient sie nicht spürt. Das Zweite ist, dass Operateure nach dieser Therapie häufig Reizzustände um den Nerv sehen. Ich habe mir das selbst angeguckt: Wenn man dort Cortison platziert, entsteht drum herum eine Art Granulationsgewebe. Das ist eine Entzündung - aber eine gewollte, weil dadurch Fresszellen an die Stelle kommen und Gewebe abtragen. Das Entscheidende ist, dass derjenige, der diese Methode anwendet, sie auch wirklich beherrschen muss - und zudem erkennen sollte, wann er mit dieser Behandlung nicht mehr weiter kommt. Bei uns sind es etwa zehn Prozent der Patienten, bei denen wir noch invasiver werden müssen. Zum Beispiel, indem wir die Bandscheibe ein Stück stutzen. Das machen wir hauptsächlich mikrotherapeutisch mit einem Laser oder einer Hitzesonde.

Es gibt einige Berichte über Komplikationen bei mikrotherapeutischen Eingriffen, wie auch Sie sie in ihrem Institut durchführen. Steht das Risiko in einem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen?

Ich mache das jetzt seit 18 Jahren. In dieser Zeit haben wir drei beherrschbare Nebenwirkungen gehabt, alle in der Frühphase des Projekts, Anfang der 90er Jahre. Zweimal entzündete sich nach einer Laserbehandlung die Bandscheibe. Und einmal ist eine Lähmung an den Beinen aufgetreten, die sich allerdings wieder zurückgebildet hat. Aus jüngerer Zeit ist mir nur eine einzige schwerwiegende Komplikation bekannt, bei der es zu einer dauerhaften Lähmung gekommen ist. Den Fall, um dessen Prüfung mich ein Patient gebeten hat, schaue ich mir gerade sehr genau an.

Da kann ein Patient dennoch Bedenken bekommen.

Natürlich. Er sollte kritisch, aber nicht ängstlich sein, wie bei jeder Behandlung. Bei klassischen Operationen haben Sie ständig Komplikationsrisiken: Blutungen, Entzündungen, neue Schmerzen, Narbenbildungen und immer wieder auch Nervenverletzungen. Die Komplikationsrate bei mikrotherapeutischen Eingriffen am Rücken ist verglichen damit enorm gering. Bei uns sind die Nebenwirkungen sämtlich noch in der Zeit aufgetreten, als wir die Methode entwickelten, in der Pionierphase. Das Risiko sinkt mit der Erfahrung eines Zentrums und Arztes sowie der Häufigkeit der Eingriffe. Es ist deshalb wichtig, dass der Arzt des Vertrauens den Patienten hilft, eine kompetente Einrichtung zu finden.

Als Sie über die leichteren Fälle gesprochen haben, haben Sie skizziert, dass Sie mit einer Vielzahl von Therapien arbeiten, die der Alternativmedizin zugerechnet werden. Welche eignet sich wofür?

Auf die Wirbelsäule bezogen ist es eigentlich egal, ob ich Tai Chi anwende, Yoga, Feldenkrais oder Pilates. Die Ansätze sind alle gut durchdacht - vorausgesetzt, der Lehrer oder die Lehrerin verstehen etwas von ihrer Methode.

Was können diese Methoden für Rückenkranke leisten?

Die bringen einerseits Entspannung und Vordehnung von Muskeln oder Sehnen und auf der anderen Seite die gezielte Spannung, die ich aufbauen muss, um die Muskulatur zu aktivieren und zu stärken. Ein dritter Nutzen ist die einhergehende seelische Entspannung. Das ist vor allen Dingen bei Tai Chi und Qigong stark ausgeprägt, aber auch beim Yoga zu finden. Eine wichtige Komponente ist noch, dass man bei diesen Methoden ein Gefühl für Schwachzonen bekommt, an denen man arbeiten muss.

Welche Erfahrung haben Sie mit der Traditionellen Chinesischen Medizin?

Bei muskulären Verspannungen an Triggerpunkten der Gesäßmuskulatur, am Rücken und in der Halsmuskulatur finde ich Akupunktur hervorragend. Auch unterstützend zur Schmerzbehandlung, zur Osteopathie, zur Mikrotherapie und der endoskopischen Chirurgie. Wer Angst vorm Nadeln hat, kann Verspannungen aber auch gut mit energetischer Massage angehen - also Shiatsu oder Akupressur.

Und wo, glauben Sie, liegen die besonderen Stärken der Schulmedizin?

In den krankengymnastischen Methoden ist die Schulmedizin sehr stark. Gerade in den letzten Jahren hat sich auch die medikamentöse Schmerztherapie gut etabliert. Ich halte sie vor allem dort für sinnvoll, wo Schmerzmittel nicht als Dauertherapie gegeben werden, sondern eine Aktivierung des Patienten erlauben. Und die Schulmedizin hat große Fortschritte bei der Verkleinerung der Operationsmethoden gemacht. Früher wurde in großen Schnitten operiert, heute muss ein Schnitt auch bei Bandscheibenoperationen nur noch einen Zentimeter lang sein. Ich sehe auch neue Operationsverfahren auf uns zukommen, zum Beispiel künstliche Bandscheiben oder solche, die aus eigenem Bandscheibengewebe der Patienten entwickelt werden.

Bei Ihren Vorträgen raten Sie als Vorbeugung für einen starken Rücken: "Turne bis zur Urne". Viele Menschen treiben intensiv Sport und bekommen dennoch Bandscheibenvorfälle. Wie kommt das?

Der Bandscheibenvorfall ist eine komplexe Problematik. Sicherlich spielt auch die Ernährung eine Rolle ...

Was hat denn die Ernährung mit meinem Rücken zu tun?

Die Wirbelsäule muss stabil bleiben und braucht dafür Mineralien. Und die Bandscheibe wird ja nicht durch Durchblutung ernährt, sondern durch Osmose, und ihr bekommt ein saures Milieu nicht so gut. Wir wissen allerdings noch viel zu wenig über die Zusammenhänge. Mögliche Ursache für Bandscheibenvorfälle kann auch körperliche Ermüdung des Halteapparats intern, des Bindegewebes oder der Bandscheibe selbst sein. Dazu kommen externe Faktoren wie eine konstante Fehlhaltung, Überlastung, fehlendes oder falsches Warmmachen beim Sport. Ganz viele durchtrainierte Sportler haben nur eine Schwäche an einer bestimmten Stelle. Die haben eine tolle Bauch- und Rückenmuskulatur, aber irgendwo zwischen zwei Wirbeln ist auf einmal die mittlere Muskulatur geschwächt. Oft berichten diese Patienten, dass sie an der Stelle schon früher Schmerzen hatten. Wir wissen: Wenn ich Schmerz habe, hören die Muskeln in dem Segment reflektorisch auf zu arbeiten. Und durch diese Schonhaltung schrumpft genau dort die Muskulatur, und später folgt die Arthrose.

Wie kann man dem begegnen?

Indem man genau für diesen Bereich das Training entwickelt. Dabei können Krankengymnasten, Osteopathen und Sporttherapeuten helfen.

Interview: Werner Hinzpeter, Sabine Kartte print

Mehr zum Thema

Newsticker