Die Vorwürfe klingen ungeheuerlich: Seit Anfang der 90er Jahre sollen Ärzte am Gießener Universitätsklinikum heimlich Medikamente an Patienten getestet haben. Zehn Mediziner werden verdächtigt, bei Operationen ohne Einwilligung der Kranken illegale Versuchsreihen mit diversen Wirkstoffen durchgeführt zu haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Körperverletzung mit Todesfolge, weil ein Patient an Blutungen gestorben sein soll. Am Donnerstag zog Universitätspräsident Prof. Stefan Hormuth die Notbremse: Bei einer Anhörung musste der Narkose-Chefarzt, der für die Testreihen verantwortlich sein soll, bei seinem Vorgesetzten Rechenschaft ablegen. Möglicherweise droht ihm die Suspendierung.
Illegale Daten wurden für Doktorarbeiten und Habilitationen verwendet
Alle beschuldigten Mediziner, gegen die die Anklagebehörde mit einer bundesweiten Razzia vorgegangen ist, sind ehemalige oder jetzige Mitarbeiter des renommierten Chefarztes. Am Mittwoch hatte die Staatsanwaltschaft 23 Kliniken, Arztpraxen und Wohnungen unter anderem in Hannover, Köln, Duisburg, Ludwigshafen, Koblenz, Gießen und Rosenheim durchsuchen lassen. Zahlreiche Unterlagen wurden beschlagnahmt. Die Ermittler müssen nun klären, ob die Patienten ohne ihr Wissen getestet wurden. Die Daten sollen die Basis von Forschungsarbeiten gewesen sein, mit denen die Narkoseärzte ihren Doktor- oder Professorentitel erlangten.
Die verabreichten Medikamente sollen nach ersten Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft "im wesentlichen" zugelassen gewesen sein. Um welche Mittel es sich handelt, wollte ein Sprecher nicht sagen. Aus einer Strafanzeige eines früheren Mitarbeiters des Chefarztes geht jedoch hervor, dass bei Herzoperationen ein gerinnungsstörendes, nicht hemmbares Medikament gegeben worden sein soll. Ein Patient soll nach der Operation an nicht stillbaren Blutungen gestorben sein. Bei einer weiteren Untersuchungsreihe habe ein Patient einen Krampfanfall erlitten. Die jüngsten Versuchsreihen liegen der Staatsanwaltschaft zufolge nur wenige Jahre zurück. Jedes Jahr werden im Universitätsklinikum rund 40 000 Patienten stationär und etwa 350 000 ambulant behandelt.
"Inhuman und unärztlich"
"Ein solches Testen von Medikamenten oder Ausprobieren von Methoden ist inhuman und unärztlich", empört sich Winfried Beck von der Vereinigung "Demokratische Ärzte". Dahinter stecke die Gier nach Geld und wissenschaftlichem Renommee: "Manche Mediziner gehen letztlich über Leichen, um Erfolge zu erzielen." Auch der Allgemeine Patienten-Verband in Marburg vermutet, dass es solche Versuchsreihen "öfter" gibt. "Die Versuchung für Ärzte ist groß. Und Patienten können das kaum nachweisen", sagt Präsident Christian Zimmermann.
Der Patientenvertreter beklagt eine "Verschwörung des Schweigens" bei den Ärzten: "Sie fühlen sich unangreifbar, so etwas fliegt höchstens mal durch einen dummen Zufall auf." So wurden die Ermittlungen in Gießen durch eine Fehde zwischen leitenden Ärzten ins Rollen gebracht. Die Mediziner hatten sich gegenseitig bei der Anklagebehörde angeschwärzt. Ausgangspunkt war eine Strafanzeige gegen den jetzt beschuldigten Chefarzt im vergangenen Jahr.
Julia Ranniko, DPA