Inside Charité Ein krankes Haus

Der glänzende Ruf der Berliner Charité lockt Patienten aus aller Welt. Nun zeigen Recherchen von stern und RTL ein anderes Bild von Deutschlands größter Medizinfabrik: organisatorische Mängel, überlastete Ärzte und Fehler, die Menschen gefährden.
Charité
Ärzte der Charité sprechen in seltener Offenheit von einem Gefühl allgemeiner Überforderung
© Vincent Burmeister / stern

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Als ein regnerischer Berliner Freitag auf Mitternacht zutreibt, entdecken zwei Passanten in einem Szeneviertel einen Mann, der wie leblos auf dem Gehweg liegt. Mittleres Alter, schmal, sorgfältig gekleidet. Aus seinem Hinterkopf scheint Blut zu sickern. Sie rufen den Notdienst. Es ist 23.12 Uhr. 

Keine Hundert Meter entfernt wartet eine Frau mit langen Locken in einem Lokal und sorgt sich. Sie hat ihren Mann spät kennengelernt, Hochzeit auf einem toskanischen Gut, ringsum nur Weinberge. Es sieht ihm nicht ähnlich, dass er sie warten lässt und nicht ans Telefon geht, wenn sie anruft. 

Nun, fünf Jahre später, sitzt Marc Omar im ersten Stock eines Gründerzeithauses am Kurfürstendamm in einem Sessel und zuckt nur mit den Schultern. Es ist, als hätte jemand eine Wand aus Milchglas zwischen ihn und sein früheres Leben geschoben. Er hat keine Erinnerung, nicht an jenen Abend, nicht an die Wochen danach. Er muss sich an das halten, was sich mithilfe der Rettungsberichte, Klinikunterlagen und den Erzählungen seiner Frau nachvollziehen lässt. 

Inside Charité: Ein krankes Haus
© Vincent Burmeister / stern

Es ist die Folge einer Schädelfraktur und einer Hirnblutung. Er musste neu lernen zu sprechen, wie ein Kleinkind, seinen Beruf als Werbetexter gab er auf. Noch immer sucht er manchmal nach Worten, die sich nicht finden lassen. 

Omar und seine Frau, selbst Ärztin, werfen der Klinik, in die man ihn brachte, lebensbedrohliche Versäumnisse vor. Vor allem, dass Ärzte seine schweren Kopfverletzungen übersahen. Die Klinik bestreitet die Vorwürfe. Marc Omar hat deshalb geklagt. Ein Patient gegen einen Mythos. Das Krankenhaus war die Charité.

Der Name Charité, Nächstenliebe, steht für einen guten Ruf in aller Welt. Er steht für Deutschlands größten Medizinbetrieb, eine Gesundheitsfabrik mit vier Standorten in Berlin und rund 20.000 Beschäftigen, die im vergangenen Jahr 800.000 Patienten ambulant behandelt und 140.000 auf ihren Stationen versorgt haben.

Sein Bettenhaus zwischen Kanzleramt und Hauptbahnhof, 21 Stockwerke hoch, gehört zur Skyline der Hauptstadt wie der Fernsehturm. Regelmäßig suchen Prominente und Politiker dort Hilfe. Es war die Charité, die den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nach seiner Vergiftung kurierte. Es war ihr Virologe, Christian Drosten, der Deutschland die Pandemie erklärte und die Bundesregierung beriet, wenn sie nicht mehr weiterwusste. 

Die Klinik führt regelmäßig Ranglisten der besten deutschen Krankenhäuser an, auch im stern. Gegründet wurde sie von Friedrich I. von Preußen im Jahr 1710 als Pesthaus, und sie entwickelte sich zu einem der ersten Zentren moderner, laborgestützter Medizin. Ein Haus von flimmerndem Ruhm, das acht Nobelpreisträger hervorgebracht hat, Männer wie Robert Koch, Emil von Behring und Paul Ehrlich. Die ARD hat der Klinik eine Serie gewidmet, halb historisch, halb fiktional.

Allerdings handelten die Schlagzeilen zuletzt eher selten von Spitzenleistungen. Die Charité sagte Ende 2022 alle verschiebbaren Operationen ab, weil viele ihrer Ärzte und Pfleger erkrankten. Dann wurden in der Mülltonne eines Berliner Mietshauses Patientenakten mit den Namen, Diagnosen und Behandlungsinformationen von Krebspatienten der Charité gefunden. In diesem Frühjahr verurteilte das Landgericht Berlin einen ehemaligen Oberarzt des Herzzentrums wegen Totschlags zu vier Jahren Haft; er ficht das Urteil an. Wenig später berichteten Medien, dass die Charité im vergangenen Jahr 134,6 Millionen Euro Verlust gemacht habe, ein Rekordminus. 

Das ist nur eine kleine Auswahl. Auch früher gab es, neben dem Ruhm, immer mal Kritik wegen angeblicher Behandlungsfehler, des Personals, des Essens. Wie in anderen großen Kliniken auch. Dieses Mal aber scheint etwas anders zu sein, ernster.

Ein Reporterteam von stern und RTL hat seit Januar recherchiert. Es hat mit Dutzenden Patienten und Angehörigen gesprochen, mit Ärzten, Managern und Fachleuten, und Zugang zu internen Dokumenten gehabt. Zudem haben drei Reporterinnen zwischen März und August mehrere Wochen lang verdeckt auf drei Stationen der Charité gearbeitet, als Pflegepraktikantinnen. Wenn man die Ergebnisse der Recherchen zusammenfügt wie Teile eines großen Puzzles, ergeben sie das Bild eines stolzen, aber kranken Hauses.

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