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Intersexualität Junge oder Mädchen? Oder beides?

Intersexualität
Unter 500 Neugeborenen ist eines, bei dem sich das Geschlecht nicht eindeutig zuordnen lässt
© GettyImages
Die Frage nach dem Geschlecht ist üblicherweise schnell zu beantworten. Doch manche Kinder sind weder eindeutig Mädchen noch Junge - sie sind intersexuell. Was versteht man darunter?

Wissenschaftlich ist die Vorstellung veraltet, dass sich alle Menschen in zwei Geschlechter einteilen lassen. Immer wieder kommen Babys auf die Welt, die weder eindeutig Mädchen noch Jungen sind. Die Fachwelt spricht in diesem Fall von Intersexualität, auch "Disorders of Sex Development" (Störungen der Geschlechtsentwicklung) genannt. Dazu zählen zahlreiche Störungsbilder, die Ursachen dafür sind vielfältig.

Für intersexuelle Menschen fordert das Bundesverfassungsgericht nun den Eintrag eines dritten Geschlechts im Geburtenregister - und verweist auf das im Grundgesetz geschützte Persönlichkeitsrecht. Betroffenen soll es so möglich sein, ihre geschlechtliche Identität "positiv" eintragen zu lassen. 

Geschätzt leben in Deutschland etwa 80.000 Intersexuelle. Statistisch gesehen dürfte jeder von uns einen intersexuellen Menschen kennen: Die Häufigkeit liegt bei ungefähr 1 zu 500. Im Alltag jedoch ist das Wissen der Gesellschaft über Intersexualität nicht sehr groß. Es gibt Vorurteile und auch Verwechslungen, etwa mit Transsexuellen.

Intersexualität und Sport

Gerade im Sport ist Intersexualität immer wieder ein Thema: 1966 gewann zum Beispiel die österreichische Skirennläuferin Erika Schinegger als 18-Jährige den Weltmeistertitel im Abfahrtslauf. Weitere wichtige Weltcupsiege folgten, bis im Vorfeld der Olympischen Spiele 1968 bei einem medizinischen Test festgestellt wurde, dass Schinegger männlich ist. Durch eine Ausprägung der Intersexualität, bei der die Geschlechtsteile nach innen wachsen, wurde das Geschlecht jahrelang nicht richtig identifiziert. Schinegger entschied sich zu einer Operation und der Änderung des Vornamens von Erika in Erik. Der Weltmeistertitel von 1966 wurde ihm nachträglich aberkannt. Zu ähnlichen Debatten führte 2009 auch der jüngste Fall der Athletin Caster Semenya aus Südafrika bei der Olympiade in China.

Kinder kommen später unters Messer

Erst in den letzten 20 Jahren kommt es zu einer umfassenderen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Leben zwischen den Geschlechtern. Doch viele Fragen bleiben: Wie reagieren Eltern richtig, wenn der Druck von außen wächst, da eine eindeutige Geschlechtszuordnung des Kindes in vielen Alltagssituation gefordert wird? Zum Beispiel von Behörden, die die gesetzliche Festlegung des Geschlechtes und Namens in der ersten Woche nach der Geburt verlangen – was vielfach nicht möglich ist, da eine gesicherte Diagnose von Intersexualität mitunter viel länger dauert. Und wie geht man am besten mit dem Thema um, sodass die psychische Belastung für alle Beteiligten möglichst gering gehalten wird?

Lange Zeit empfahlen Ärzte eine rasche Entscheidung für eines der beiden Geschlechter und eine frühzeitige Operation. Bis in die 80er Jahre war es üblich, dass intersexuelle Menschen im Kindes- und Jugendalter Operationen im Genitalbereich hatten, ohne ausreichend in diesen Entscheidungsprozess mit einbezogen zu werden. Dieser entmündigende Umgang wurde in den vergangenen 20 Jahren von Betroffenen und Medizinern kritisiert, es kam zu einem Umdenken. Auch wenn dies für Intersexuelle eine große Erleichterung ist, dauert die Auseinandersetzung mit dem "umgebauten Körper" - wie es ein Betroffener bezeichnet - oftmals ein ganzes Leben.

Das Geschlecht hängt von mehreren Faktoren ab

Beim menschlichen Embryo kann bis zur sechsten Schwangerschaftswoche nicht zwischen männlichen und weiblichen Keimdrüsen unterschieden werden, im Lauf der siebten Woche bilden sich die Hoden aus, die Eierstöcke folgen etwas später. Nach der Geburt wird das genitale Geschlecht überprüft, ob wir Mann oder Frau sind, hängt allerdings von mehreren Merkmalen ab.

Zum einen sind da die Gene, also das chromosomale Geschlecht. Die Frau trägt in ihrem Erbgut die Chromosomen XX, der Mann die Chromosomen XY. Daneben werden im Hoden und in den Eierstöcken die Sexualhormone gebildet. Als genitales Geschlecht wird beim Mann der Penis, bei der Frau die Vulva bezeichnet. Da dies die offensichtlichsten Geschlechtsmerkmale sind, spielen die anderen in den ersten Lebensjahren eine untergeordnete Rolle. Manche Varianten von Intersexualität, an deren Entstehung zumeist Gendefekte schuld sind, lassen sich nicht mit bloßem Auge erkennen. Eine endgültige Diagnose ist oft nur möglich, wenn Hormone und Gene in einer Blutuntersuchung bestimmt werden. Diese wird allerdings nicht routinemäßig nach der Geburt durchgeführt, weshalb bei manchen Intersexuellen erst spät entdeckt wird, dass sie sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen lassen. Da bis zu hundert Störungsbilder unter dem Sammelbegriff "Intersexualität" zusammengefasst sind, ist es wichtig, dass ein in diesem Bereich erfahrener Arzt die Diagnose stellt.

Adrenogenitales Syndrom

Am häufigsten ist das Adrenogenitale Syndrom (AGS), bei dem die Tätigkeit der Nebennierenrinde gestört ist, was zu einem lebensgefährlichen Salzverlust führen kann und daher auf jeden Fall behandelt werden muss. Die betroffenen Babys haben zwar einen weiblichen Chromosomensatz, allerdings werden bei ihnen durch den Defekt mehr Androgene, also Sexualhormone wie Testosteron, gebildet. Wird die AGS nicht behandelt - zum Beispiel mit einer Kortisonersatztherapie - vermännlichen die äußeren Geschlechtsorgane.

Androgenresistenz-Syndrom

Beim Androgenresistenz-Syndrom (AIS) wird das Kind zwar mit einem männlichen Chromsomensatz (XY) geboren. Der Fötus besitzt Hoden, die auch beginnen Androgene wie Testosteron auszuschütten. Allerdings versteht der Körper die Botschaft der Androgene nicht, weil die Zell-Rezeptoren, an die dieses Hormon andocken kann, teilweise oder gänzlich unsensibel für den Stoff sind. Die Folgen sind je nach Ausprägung unterschiedlich: Die äußeren Genitalien können komplett weiblich erscheinen, wobei Gebärmutter und Eileiter nicht ausgebildet werden. Die Hoden sind zwar da, aber sie liegen im Bauchraum und sind nicht wie üblich kurz vor der Geburt nach außen gewandert. Die meisten dieser "Mädchen" werden erst stutzig, wenn die Menstruation ausbleibt. Zudem wachsen ihnen in der Pubertät keine Haare unter den Achseln und auch die Vulva bleibt unbehaart wie bei einem Kind. Bei der partiellen AIS entwickeln sich die Betroffenen meist männlich, die Geschlechtsorgane sind allerdings unterentwickelt.

Gonadendysgenesien

In den Keimdrüsen (Gonaden) werden die Sexualhormone und die Keimzellen gebildet. Unter Gonadendysgenesien wird eine Fehlentwicklung oder das komplette Fehlen der Keimdrüsen verstanden. Davon gibt es verschiedene Erscheinungsformen, die sich wiederum unterschiedlich auf die Geschlechtsentwicklung auswirken. Eine Gonadendysgenesie geht häufig mit Kleinwuchs einher, auch Unfruchtbarkeit kann eine Folge sein.

"Penis mit zwölf"

Durch Zufall entdeckte die US-Forscherin Julianne Imperato-McGinley in der Dominikanischen Republik diese Art der Intersexualität: Aufgrund eines defekten Gens konnten die Körper ihrer jungen Patienten ein bestimmtes Eiweiß nicht herstellen. Dieses Enzym braucht der Körper, um das männliche Sexualhormon Testosteron in eine noch wirksamere Form umzuwandeln. Als Folge des Mangels haben Jungen nach der Geburt die äußeren Geschlechtsmerkmale von Mädchen und werden daher als solche eingeordnet. Die Hoden sind im Bauchraum geblieben. Erst wenn der Stimmbruch eintritt, fällt das richtige Geschlecht auf, die Testosteronproduktion ist nun angemessen, der Körper entwickelt sich männlich. Bei den von Imperato-McGinley untersuchten Jungen wuchs die Klitoris in die Länge und wurde zum Penis. Das gab dem Phänomen den Namen: "guevedoce"-Syndrom, "Penis mit zwölf".

Zwischen Mann und Frau

Ganz selten ist der sogenannte Hermaphroditismus verus, also das gleichzeitige Vorhandensein von Eierstöcken und Hoden. Als Ursache dafür wird ein Gendefekt vermutet. Wie sich das auf die äußeren Geschlechtsmerkmale auswirkt, ist unterschiedlich. Es gibt viele Möglichkeiten - etwa große und kleine Schamlippen mit einer Mischform zwischen Klitoris und Penis. Meist haben Betroffene einen männlichen Chromosomensatz.

Diagnose der Intersexualität

In den seltensten Fällen erfahren die Eltern vor der Geburt von der Intersexualität ihres Kindes, da bei den normalen Untersuchungen während der Schwangerschaft der Chromosomensatz oder die Hormonzusammenstellung nicht bestimmt werden. In den Ultraschalluntersuchungen sind Eierstöcke oder Hoden ebenfalls nicht sichtbar. Eine klinische Studie zu Intersexualität zeigt, dass bei zwei Drittel aller Teilnehmenden der erste Verdacht zum Zeitpunkt der Geburt aufkam. Bei einem Viertel sogar noch später - etwa nachdem die Menstruation in der Pubertät ausgeblieben war. In den meisten Fällen stellen allerdings Ärzte im Krankenhaus direkt nach der Geburt fest, dass die äußeren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind. Erst dann wird eine ausführliche Hormon- und Genuntersuchung veranlasst. Vor allem die hierfür sehr genauen und detaillierten Untersuchungen des Blutes können einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Anlage der inneren Geschlechtsorgane lässt sich sehr schnell mit dem Ultraschall überprüfen. Alle Untersuchungen dürfen nur mit Einverständnis der Eltern erfolgen.

Behandlung

So unterschiedlich die Ursachen von Intersexualität sind, so vielfältig ist auch die Herangehensweise an Zeitpunkt und Art der Korrektur der untypischen Geschlechtsentwicklung. Als medizinischen Behandlungsmöglichkeiten bietet sich eine Hormontherapie ebenso an wie eine Operation. Häufig werden auch beide Therapien kombiniert. Erforderlich sind Medikamente auf jeden Fall, wenn die Nebennierenrinde wie beim AGS-Syndrom nicht richtig arbeitet, da dies zu einem lebensgefährlichen Salzverlust führen kann.

Leider gibt es bis jetzt keine kontrollierten Studien dazu, wie erfolgreich Operationen bei diesem Krankheitsbild sind. Die kosmetischen Eingriffe sollten auf jeden Fall nur von Operateuren gemacht werden, die über eine ausreichende Erfahrung und regelmäßige Operationstätigkeit bei Intersexuellen verfügen - dies setzt jährlich drei bis vier Behandlungen voraus. Generell ist es wichtig, dass die Betroffenen selbst entscheiden, welche Geschlechterrolle sie annehmen wollen. Auch in der Medizin setzt sich daher immer mehr die Ansicht durch, intersexuelle Kinder nicht gleich unters Messer zu legen.

Heute ist es den Betroffenen vor allem wichtig, dass sie eine möglichst große Lebenszufriedenheit haben. Da diese auf vielfältige Art und Weise erreicht werden kann, geht es den meisten erst in einem zweiten Schritt um ein eindeutiges Erscheinungsbild. Ohne Zweifel ist die untypische Geschlechtsentwicklung allerdings für die Betroffenen eine Belastung, die zu psychischen Erkrankungen führen kann. Ein offener Umgang mit dem Thema kann helfen, viel von diesem psychischen Druck abzubauen.

Tipps für Eltern

Die Geburt eines Kindes mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung ist für Eltern ein unerwartetes Ereignis. Wie verhalten Sie sich, wenn Sie erfahren, dass Ihr Baby intersexuell ist?

Am besten suchen Sie sich für alle weiteren Informationen, Überlegungen und Entscheidungen ein interdisziplinäres Behandlungsteam. Nehmen Sie schon im Krankenhaus Ihr Recht wahr, mit Vertretern unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen zu reden und auch weitere Experten einzubeziehen - zum Beispiel Kinderendokrinologen, Kinderurologen, Kinderchirurgen, Psychologen, Psychotherapeuten, Sexualwissenschaftler aber auch Juristen, Pädagogen oder Sozialwissenschaftler. Scheuen Sie sich nicht, bei fachlicher Überforderung des Krankenhauses, in dem Ihr Kind geboren wurde, um eine Verlegung in ein Spezialzentrum (meist an Universitätskliniken) zu bitten. Hilfreiche Adressen finden Sie hier.

Anm. d. Red: Dieser Artikel stammt aus unserem Archiv und wurde aktualisiert.

Intersexualität: Junge oder Mädchen? Oder beides?
Nicole Bongard/ikr

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