Wenn Sie zum ersten Mal von der Familie Reuter hören, dann klicken Sie für Teil 1 hier und für Teil 2 hier und lesen, wie alles begann. Wenn Sie aber wissen wollen, wie Maria Reuter die Frage ihres Kindes nach seinem Geschlecht beantwortet hat, lesen Sie einfach weiter.
Eigentlich hatte Maria Reuter sich immer vorgestellt, dass sie sich irgendwann in Ruhe mit ihrem Kind hinsetzen und über das Thema reden würde. Tatsache ist aber, dass sich die Aufklärung in vielen kleinen Schritten vollzieht, mitten im Alltag zwischen Schuhe anziehen und Abendessen vorbereiten. "Unser erstes Gespräch hatten wir bei einem Trip an die Ostsee, wir waren mit Freunden unterwegs. Da sind wir in einem Restaurant zu dritt zur Toilette gegangen, mein Sohn war auch dabei, und da fragte die damals Dreijährige: 'Wo geh ich denn hin?' Es war das erste Mal, dass wir darüber gesprochen haben."
Maria Reuter fährt fort: "Ich habe ihr dann erklärt, dass sie mit uneindeutigem Geschlecht geboren ist, dass bei ihrer Geburt nicht klar war, ob sie ein Mädchen oder ein Junge ist und ihr Papa und ich dachten, dass sie erst mal als Mädchen aufwachsen soll. Aber dass letztendlich nur sie uns sagen könnte, wo sie eigentlich hingehört. 'Und darum gehst du jetzt mit Mama auf die Mädchentoilette. Und mit Papa kannst du auch auf die Jungstoilette gehen."
Nicht nur Rosa und Hellblau
"Irgendwann hat mein Kind dann daraus gemacht: 'Ich bin beides'. Das war aber bestimmt ein Jahr später. Das hat uns überrascht! Sie hätte ohne Weiteres sagen können 'Ich bin ein Mädchen', ich hatte ihr ja diese weibliche Fassade gegeben, weil ich angenommen hatte, dass sie das für sich nutzen würde, um den glatteren Weg zu gehen. Weil ich dachte, der Mensch braucht in der Gesellschaft eine eindeutige Geschlechtsrolle." Doch über sein Geschlecht haben die Reuters ihrem Kind nie etwas vorgemacht: "Es gibt ein Kinderbuch, da wird Intersexualität mit Puzzleteilchen erklärt. Und wir haben ihr immer gesagt, sie hat Puzzleteilchen vom Mädchen und Puzzleteilchen vom Jungen."
Die Tatsache, wie stark das Denken in den Kategorien männlich/weiblich verankert ist, beeindruckt Maria Reuter immer wieder tief. In der ersten Zeit hat sie, wenn ihr Blick auf das Kind fiel, stets nach klassischen Junge/Mädchen-Merkmalen gesucht. "Für mich war es ein ganz großer Durchbruch, als ich Geschlecht nicht mehr wie zwei Körbchen gesehen habe, hier Rosa und da Hellbau, sondern eher als großes Ganzes." Doch für diese Erkenntnis hat die Mutter Jahre gebraucht. Jahre, in denen sie ihr Kind beobachtet, Bücher gelesen und in einer Selbsthilfegruppe Erfahrungen mit anderen Familien ausgetauscht hat. Die Einteilung in Geschlechter prägt unsere Gesellschaft: "Wie eingeschränkt unser Denken dadurch ist, können wir bei der Geburt eines intersexuellen Kindes noch gar nicht durchschauen", sagt Maria Reuter.
Gesetz und Gesellschaft
Das Gesetz zum Personenstand, das am 1.11.2013 um einen Artikel ergänzt inkraftgetreten ist, hält Maria Reuter grundsätzlich für richtig: "Ich weiß zwar noch nicht, wie viel Heil in dem neuen Gesetz liegt, aber Hoffnung sehe ich darin, dass überhaupt mal gesetzlich anerkannt wird, dass wir intersexuelle Menschen in unserer Gesellschaft haben. Und das finde ich sehr schön. Unser Gesetz sollte die Menschen abbilden, die wir haben, deswegen allein ist es sinnvoll. Die Ängste, die Eltern um ihr Kind haben, davor, dass es möglicherweise ausgegrenzt wird, sind ja zum Teil auch Phantomängste. Wichtig ist doch: Was hilft diesen Eltern? Und das Gesetz signalisiert ihnen: Aha! Das ist sogar im BGB verankert! Wenn es das auslösen kann, wäre das doch schon mal hilfreich. Wenn dann auch die Ärzte sagen würden: Sie müssen jetzt erst mal gar nichts machen, das wäre der Durchbruch!" Dass noch viele offene Fragen bleiben, sieht auch Frau Reuter so: "Ab wann kann und wann muss ein Geschlecht eingetragen werden? Das ist alles noch nicht klar. Und wer darf das entscheiden? Gehen wir jetzt alle mit ärztlichem Attest zum Standesamt? Sind die Ärzte die Geschlechtszuweiser der Nation? Welchen Einschränkungen ist der Mensch unterlegen, der sich zunächst nicht eingetragen hatte? Was bedeutet das fürs Ehe- und Partnerschaftsrecht? Werden hier Chancen eröffnet oder Türen geschlossen?"
Das Thema Sexualität löst in der Gesellschaft noch immer Befremden aus. "Alles, was mit dem Geschlecht zu tun hat, ist mit Scham besetzt und anrüchig", sagt Maria Reuter. Zwar hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, was die Rechte von Schwulen, Lesben, Bi-, Inter- und Transsexuellen angeht, doch in der Mitte der Gesellschaft sind sie längst nicht angekommen, oft nicht einmal im Bewusstsein der Menschen. Maria Reuter fasst die Vorurteile zusammen: "Wir können von der Gesellschaftz vielleicht noch Mitgefühl für zwischengeschlechtliche Menschen erhoffen, weil Intersexualität körperliche Anzeichen vorweisen kann. Aber für Transsexuelle gilt das zum Beispiel bislang nicht: Viele glauben doch, das sei eine Form sexueller Ausschweifungen, oder was weiß ich. Es würde mich nicht wundern, wenn sich eines Tages herausstellt, dass auch Transsexualität biologische Ursachen hat."
Das Für und Wider von Operationen
Der Großteil der bei Geburt als intersexuell diagnostizierten Kinder wird bereits im ersten Lebensjahr operiert, weil etwa bei verkümmerten Keimdrüsen ein erhöhtes Krebsrisiko vermutet wird. "Wir haben uns dann zu einer Operation entschlossen. Es gibt bei dem Befund Chromosomales Mosaik tatsächlich ein stark erhöhtes Entartungsrisiko. Allerdings sind entartete Zellen nicht gleich Krebszellen! Trotzdem bin ich weiterhin froh, nicht dauernd darüber nachdenken zu müssen, wie groß das Risiko gerade ist. Andererseits denke ich aber auch nicht täglich über mein eigenes Brustkrebsrisiko nach." Dass bei vielen Formen von Intersexualität das Entartungsrisiko nur minimal höher ist als bei jedem anderen Menschen, hat sich erst in den vergangenen Jahren herausgestellt.
Maria Reuter hat über den Verein Intersexueller Menschen gelernt, die Zahlen anders zu bewerten und befürchtet, dass Statistiken noch immer benutzt werden, um eine Entscheidung herbeizuführen. "Ich frage mich deshalb heute, ob erst das Krebsrisiko kommt oder erst der Wunsch, das Kind klar zuzuweisen. Wie gerechtfertigt ist es, auf einen rein statistischen Wert hin ein funktionierendes Körperteil zu entnehmen? Tun wir das nicht vielleicht auch, weil dieses Geschöpf noch so klein ist und wir es noch nicht so gut kennen?", gibt die Mutter zu bedenken. Sie wünscht sich deshalb für junge Eltern ein Moratorium, eine Zeitspanne, in der ohne aktuelle Not nicht einfach operiert werden darf. Damit die Eltern ihr Kind kennenlernen und sehen, wie es sich über die Jahre entwickelt, welche Interessen und Neigungen es hat und irgendwann selbst sagen kann, wie es sich sieht. "Das Geschlecht ist im Kopf des Menschen angelegt und nicht zwischen den Beinen", hat Maria Reuter gelernt. "Die Uneindeutigkeit lässt sich nicht einfach wegoperieren."
Cars, Lego und "Star Wars"
"Es gibt so etwas Männliches an der Art, wie sie sich bewegt, wie sie sich gibt. Sie hat sich immer bei den Jungs wohlgefühlt, wollte mit denen spielen und wollte ganz eindeutig nicht zu den Mädchen gehören. Heute würde ich sagen, sie ist damit einverstanden beides zu sein, sie wäre damit einverstanden, ein Junge zu sein, aber Mädchen, das passt für sie nicht als Kategorie", beschreibt die Mutter ihr Kind, das sehr genau weiß, was es will. In letzter Zeit spricht Maria Reuter deshalb seltener von "meiner Tochter", doch das "sie" kommt in ihren Antworten noch regelmäßig vor: "Ich würde mein intersexuelles Kind, wenn ich es auf der Straße treffen würde, männlich einschätzen. Und so wird sie auch gesehen. Ich konnte bislang etwas typisch Weibliches noch nicht erkennen." So entstehen Sätze, die ebenfalls beide Geschlechter enthalten: "Ich denke, sie wäre ein großartiger Tänzer. Sie hat unglaubliche Fähigkeiten, sich zu bewegen. Aber Ballett mit den Glitzermädchen, das ginge gar nicht. Wir denken gerade über Breakdance nach." Auch in den Spielwelten zeigten sich schon früh klare Vorlieben: "Derzeit hat sie großes Interesse an Star Wars, Lego und noch immer eine große Liebe zu Cars. Wir haben Vater, Mutter, Kind mit Cars gespielt." Familiäre Rollenspiele mit Autos statt mit Puppen.
Das Thema OPs bewegt Maria Reuter immer wieder. "Ich bin noch nicht so weit, dass ich alle Operationen kategorisch ablehne - auch weil ich befürchte, dass wir damit Operationen, die vom Kind ausdrücklich gewollt wären, aber in einem minderjährigen, weil vorpubertären Alter stattfinden müssen, grundsätzlich verhindern würden. Wir sehnen uns offenbar nach einem Schwarz oder Weiß, aber es bleibt ein moralisch ganz schwieriger Bereich, selbst wenn der Patient sich einen Eingriff wünscht", sagt sie. Und für die Tragweite findet sie ein anschauliches Beispiel: "Das Entartungsrisiko es ist eben nur ein Risiko. Beim nächsten Mal würde ich die Ärztin fragen: 'Wie würde es denn Ihr Mann machen, wenn Sie ihm sagen, dass er ein 30-prozentiges Hodenkrebs-Risiko hat? Würde er sich seine Hoden abnehmen lassen?'" Auch wenn Maria Reuter die Entscheidung, die sie und ihr Mann damals getroffen haben, noch immer nachvollziehen kann, hadert sie damit. "Es bleibt da eine Schuldfrage im Raum, die mit der Frage einhergeht, ob ich nicht noch besser hätte lieben können, statt mich von der Angst so leiten zu lassen."
Ist gar nicht so schlimm
Da ihr Mann und sie sich so viele Sorgen gemacht haben, die sich, je älter das Kind wurde, als völlig unnötig herausgestellt haben, möchte Maria Reuter aufklären, beruhigen und vor allem Mut machen: "Meine Hoffnung ist, dass Eltern, die jetzt davon betroffen sind, sehen: Da scheint es Leute zu geben, die damit ganz gut umgehen können. Auch die Belastungen fürs Kind scheinen in unserem Fall absolut zumutbar. Ich wünsche mir, dass andere Eltern sehen, dass das, wovon man gedacht hat, es wäre schlimm, gar nicht schlimm ist. Das fand ich das Überraschendste an der ganzen Geschichte", schließt sie. Und wenn man sie ihre Anekdoten und Geschichten erzählen hört, wünscht man sich, sie würde darüber ein Buch schreiben.