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Traditionelle Chinesische Medizin Kurieren im Sinne Maos

Seit Hong Kong wieder zu China gehört, blüht dort die Traditionelle Chinesische Medizin. So, wie es sich der Große Vorsitzende eibnst gewünscht.
Von Jan-Philipp Sendker

Wendy Wong sieht elend aus. Zusammengesunken hockt sie auf einem Plastikstuhl im Wartezimmer einer Klinik für Traditionelle Chinesische Medizin, kurz TCM, in Hongkong. Ihr Gesicht ist von Schmerz gezeichnet. Die 33-Jährige leidet unter einem der Migräneanfälle, die sie seit der Geburt ihres Sohnes vor einem Jahr in unregelmäßigen Abständen heimsuchen. "Ich habe das Gefühl, mein Kopf zerspringt gleich in tausend Teile", flüstert sie.

Vor einigen Wochen, als die Beschwerden mal wieder unerträglich waren, ging sie zu einem Arzt, der ihr starke Schmerzmittel verschrieb. Doch als sie zu Hause auf dem Beipackzettel von all den möglichen Nebenwirkungen las, legte sie das Medikament wieder weg. "Ich hatte schlicht Angst, dass diese Tabletten den letzten Rest Energie aus meinem Körper saugen."

Stattdessen konsultierte sie auf Anraten ihrer Mutter den TCM-Arzt Doktor Hung. Er hörte sich in Ruhe ihre Krankengeschichte an, ihre Schilderung der schwierigen Geburt, der schlaflosen Nächte, der Belastungen, die das Leben mit einem Säugling mit sich bringt. Er fühlte ihren Puls, betrachtete ihre belegte Zunge und diagnostizierte starke Ungleichgewichte in ihrem Körper als Ursache für die Schmerzen. Sie leide an innerer Hitze und Feuchtigkeit, der Fluss ihres "Qi", ihrer Lebensenergie, sei an mehreren Stellen blockiert, die Leber und die Milz arbeiteten nicht richtig. Er registrierte auch ihre starken Muskelverspannungen in den Schultern und im Nacken. Hung verordnete Akupunkturbehandlungen und die typische TCM-Medizin: übel riechenden, bitter schmeckenden Tee aus Kräutern, den Wendy Wong zweimal täglich trinken sollte.

Kräutertee gegen Kopfschmerzen? Wendy Wong nickt. Sie fühle sich insgesamt besser, auch wenn die Schmerzen heute ein arger Rückfall seien. "Ich weiß, dass ich Geduld haben muss", sagt sie mit ihrer leisen Stimme. "Die chinesische Medizin wirkt langsamer als westliche Tabletten, dafür hat sie weniger Nebenwirkungen. Ich bin davon überzeugt, dass sie mir hilft."

Diesen Glauben teilen in Hongkong neuerdings immer mehr Menschen. Unter den Engländern war das Gesundheitssystem über 150 Jahre lang ausschließlich auf die westliche Schulmedizin ausgerichtet. Pulsdiagnose, Akupunktur oder Kräutertees galten als Aberglaube und Hokuspokus. Seit der Rückgabe der ehemaligen Kronkolonie an China hat das Interesse an den alten Heilmethoden in der Stadt jedoch enorm zugenommen. Die großen staatlichen Krankenhäuser eröffneten eigene TCM-Kliniken und statteten sie mit viel Geld und der neuesten Technik aus. Die Universitäten gründeten Studiengänge für Traditionelle Chinesische Medizin, und der Andrang ist groß.

Als erstes lernen

die Studenten dort, dass der Begriff TCM ein Kunstprodukt ist, konstruiert im Auftrag des Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung: Westlich ausgebildete chinesische Ärzte schufen die Heilkunde in den 50er Jahren. Sie stützten sich auf jahrtausendealte Schriften, Beobachtungen und Erfahrungen, durften aber gleichzeitig nicht in Widerspruch zu moderner Wissenschaft und Technik geraten. Denn Mao hasste "veraltetes" Denken.

Deshalb wäre die Praxis von Doktor Chong dem Großen Vorsitzenden vermutlich ein Gräuel. Die TCM-Klinik des über 70-Jährigen ist eine der ältesten in Hongkong. Sie befindet sich in Kowloon, in der Nähe des ehemaligen Flughafens, und sieht aus, als hätte sich darin seit 50 Jahren nichts verändert. Der Laden ist zur Straße hin offen, darin stehen abgenutzte Sitzbänke aus Holz, zwei verrostete Ventilatoren drehen sich knarrend unter der Decke und wedeln die schwüle Luft durch den Raum. Aus einem alten Radio scheppert kantonesische Opernmusik. Bis unter die Decke stehen in den Regalen Gläser mit Zutaten für die Tees, die Doktor Chong verschreibt. Mehr als 1000 verschiedene Ingredienzen, Kräuter, Pflanzen, Wurzeln aus allen Teilen Chinas, darunter Gefäße mit Tintenfischknorpeln, getrockneten Blutegeln, pulverisierten Muscheln, geraspeltem Hirschpenis, Fledermaus- oder Seidenraupenkot.

Termine vergibt

Chong nicht. Wer Beschwerden hat, kommt vorbei - und muss viel Zeit mitbringen. Fast immer reicht die Schlange der Wartenden bis auf die Straße: Mütter mit ihren Kindern, Angestellte, Hausfrauen und Rentner. Manche lesen Zeitung, andere machen ein Nickerchen.

Der Doktor, in weißem Hemd und Krawatte, hockt auf einem Holzschemel und fühlt mit seinen langen, fast zarten Fingern einer jungen Frau den Puls. Zweimal lässt er sich ihre Zunge zeigen, zwischendurch kritzelt er Schriftzeichen auf ein Stück Papier.

Lisa Lin konsultiert ihn in letzter Zeit häufiger, sie leidet an einem heftigen roten Hautausschlag am rechten Arm. Der Doktor führt ihn auf eine Nierenschwäche zurück und verschreibt einen Tee aus 19 verschiedenen Zutaten. Sein 79-jähriger Assistent schlurft hinter dem Tresen entlang, holt einen Glasbehälter nach dem anderen aus den Schränken, wiegt die Zutaten auf einer Handwaage ab und häuft sie auf ein großes Stück Papier. Die Patientin soll alles zusammen eineinhalb Stunden kochen und das Gebräu über die nächsten zwei Tage verteilt trinken. Dann soll sie wiederkommen. Denn die Zu- sammensetzung der Tees wird regelmäßig dem sich verändernden Befinden angepasst. Frau Lin nickt zuversichtlich. Vor vier Wochen reichte der Ausschlag fast über den ganzen Arm, jetzt hat er noch die Größe einer Spielkarte, der Tee zeigt Wirkung. "Chinesische Medizin hilft dem Körper, sich selbst zu heilen", sagt sie.

Die nächste Patientin ist eine Mutter, die ihre dreijährige Tochter auf dem Arm trägt. Frau Wang konsultiert seit vielen Jahren Doktor Chong. Sie quält sich mit einer Erkältung. "Ich habe immer das Gefühl, dass westliche Medikamente mir die Kraft aus dem Körper ziehen", sagt sie. Ihre Tochter lässt sie jedoch von einem westlich geschulten Kinderarzt behandeln. "Sie würde die bitteren Tees niemals trinken."

In seiner kurzen Mittagspause sitzt der Arzt in einem Hinterzimmer und schlürft eine Nudelsuppe. Er ist ein konservativer Mann, seine Kunst lernte er nicht an Universitäten, sondern von seinem Vater. Über 20 Jahre assistierte er ihm, bis er es schließlich wagte, selbst Patienten zu behandeln. In der Traditionellen Chinesischen Medizin gehe es ausschließlich um drei Dinge, sagt er: Erfahrung. Erfahrung. Erfahrung. Die erwerbe man nicht an Universitäten oder in Laboren. Er hält überhaupt nichts von all den Studiengängen, den Versuchen, die TCM mithilfe von klinischen Tests und Computerprogrammen zu modernisieren.

Deshalb wäre das wenige Kilometer entfernt liegende Tung-Wah-Krankenhaus kein Platz für Doktor Chong. Es beherbergt eine der modernsten TCM-Kliniken der Welt. Die Wartezimmer gleichen denen westlicher Krankenhäuser: wohltemperiert und hell erleuchtet, aus Lautsprechern knistern Stimmen, die Patienten aufrufen. Über Flure eilen

Ärzte in weißen Kitteln, fast alle wurden in der Volksrepublik ausgebildet.

Hinter einer großen

Glasscheibe arbeitet ein Dutzend junge Frauen. Mit großer Schnelligkeit und Konzentration stellen sie die Tees zusammen, die von den Ärzten verschrieben wurden. Dabei benutzen sie Computer und mischen fast ausschließlich Pulver und Granulate. Diese müssen die Patienten nur noch mit kochendem Wasser übergießen - wie eine Tütensuppe. "Nach all unseren Erfahrungen ist das genauso effektiv wie die traditionelle Methode", sagt Doktor Li, die Leiterin der Klinik. "Aber für die Patienten viel praktischer. Wir versuchen, die Vorteile der westlichen Schulmedizin mit denen der Traditionellen Chinesischen zu verbinden."

Alle Zutaten werden im Labor auf Pestizide, Schwermetalle und andere Giftstoffe untersucht, die Rezepte im Computer gespeichert, damit der Arzt beim nächsten Besuch sofort abrufen kann, welche Kräutermischung er verschrieben hat. Zum Schluss wird der Tee portioniert und in kleine Tüten eingeschweißt.

Doktor Li spricht von Qualitätskontrollen, klinischen Tests, Kontrollgruppen und Risikomanagement. Nicht ohne Stolz zeigt sie die klimatisierten Lagerräume, in denen viele der Pflanzen bei der erforderlichen Temperatur und Luftfeuchtigkeit gelagert werden, so wie es bei modernen Medikamenten international üblich ist.

Das Wartezimmer ist fast voll, die Patienten warten selten länger als fünfzehn Minuten. Frau Chow kommt seit einem Monat zweimal wöchentlich in die Klinik. Sie litt unter starken Kopfschmerzen, der Doktor diagnostizierte eine viel zu schwache Ying-Energie und verschrieb ihr einen Tee, den sie nun dreimal am Tag trinkt. "Das schaffe ich nur mit dem Pulver. Ich hätte nicht die Zeit, mir den Tee jedes Mal frisch aufzubrühen." Schmerzen hat sie seit zwei Wochen nicht mehr.

Doktor Li warnt ihre Patienten vor zu großen Erwartungen. "Die Traditionelle Chinesische Medizin ist weder ein Allheilmittel, noch vollbringt sie Wunder." Die Diagnose schwerer Erkrankungen sei eine der Schwachstellen. Ein Tumor etwa lasse sich nicht anhand des Pulses und des Zungenbelags diagnostizieren. Im Zweifelsfall rate sie immer zu westlichen Behandlungsmethoden und schicke ihre Patienten zur Computertomografie. Die TCM sei nach ihrer Erfahrung jedoch sehr wirksam, um die Nebenwirkungen von Chemotherapien zu lindern. "TCM und die westliche Schulmedizin müssen sich, wann immer es möglich ist, ergänzen und nicht einander ausschließen", sagt sie. "Darin liegt eine große Zukunft."

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