Buchauszug "Die Ignoranz kotzt mich an": Ein Vater klagt über Kinderfeindlichkeit

Kinder unerwünscht
"Kinderwagen verboten" signalisiert dieses Schild.
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Warum gibt es in Deutschland 23 Millionen Haustiere, aber nur 10,9 Millionen Kinder? In seinem Buch "Papa Sorglos" kommentiert Jo Berlien mit bissigen Thesen den Vater-Kind-Hype. Der stern bringt einen Auszug.

Die Ignoranz in Deutschland kotzt mich an

Windeln wechseln, Fläschchen geben, das Baby pucken, also es wie die Mongolen zu einem Bündel fest verschnüren; sich ein Tragetuch umbinden und sich so an die Öffentlichkeit wagen oder aber abends, auf endlosen Streifzügen durch die Wohnung, den Säugling zum Einschlafen zu bewegen; den Kinderwagen auf immer neuen Routen durchs Viertel schieben, auch werktags, wenn Männer üblicherweise arbeiten und man unterwegs und im Park nur auf Mütter trifft - als zeitgemäßer Vater gehört all das zum erweiterten Repertoire, als Zwillingsvater hast du keine Wahl. (...) Einfach ist es nicht. Nichts ist einfach. Auch nicht in Wohlstandsländern mit einer formell aufgeklärten und tendenziell emanzipierten Gesellschaft. Leicht lässt es sich herzhaft schimpfen auf die Verhältnisse. Also tun wir es: In der Straßenbahn in Prag steht eine junge Frau selbstverständlich von ihrem Platz auf und überlässt ihn einer jüngeren Frau mit einem kaum merklichen Bäuchlein. In Deutschland fällt dieses Bäuchlein nicht weiter auf. Im Bus in Hamburg bleiben sie selbstverständlich hocken - der junge Schnösel ebenso wie der struppige Anfangfünfziger. Fragt man in die Runde, ob die Schwangere bitte sitzen dürfe, erhebt sich als Einzige - eine ältere Italienerin.

Der tolerante Großstädter wünscht sich in den Süden, tief nach Afrika, wo es, wie das Sprichwort besagt, ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Im angestrengten Deutschland strengt es an, Eltern zu sein. Elternsein ist, na klar, uncool. In Berlin haben sie sich im Bezirk Prenzlauer Berg ein Biotop erschaffen, wo sich sonntags die Öko-Eltern zum Brunchen treffen / und die Arschloch-Kinder durch die Cafés kläffen, // wo der Service hinkt / und 's nach Babykotze stinkt, wie es die Musikerin Christiane Rösinger hübsch maliziös ausmalt.

Eine Intellektuellen-Bosheit wie die Arschloch-Kinder ist typisch für ein Land, das sich in Milieus und Gruppen sortiert und wo der Individualist aufgeht in der jeweiligen Rolle als Autofahrer oder Radfahrer, Single oder Ehemann, Mutter oder Kinderlose. (...)

Kinder sind Scheiße 

Kinder sind laut! ("Spielen und Lärmen im Treppenhaus verboten"), lästig! ("Kann man die nicht mal für zwei Wochen abgeben?"), teuer! (120.000 Euro bis zum 18. Lebensjahr), und sie amortisieren sich als Investition nicht.

Kann man Kinder nicht gut finden?
Man kann. 20 Prozent der Deutschen gaben 2013 in einer repräsentativen Umfrage der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen an: Nein, Kinder sind kein erfüllender Lebensinhalt! In derselben Umfrage erklärten 67 Prozent der Befragten: Kinder kosten zu viel Geld. 60 Prozent sagten: Kinder, nein danke! Lieber sind wir frei und unabhängig. 57 Prozent gaben an: Karriere ist mir wichtiger als eine Familie. 54 Prozent sagten: Karriere ist nur schlecht mit der Familie zu vereinbaren. Andere reden sich auf fehlende Kita-Plätze (45 Prozent) und, wie schon in den 1980er-Jahren, auf die unsicheren Zeiten (39 Prozent) hinaus.
Deutsche Haushalte füttern lieber 23 Millionen Katzen, Hunde, Hamster, Kaninchen, Zierfische, Wellensittiche und Leguane durch. Aktuell stehen 23 Millionen Haustiere 10,9 Millionen Kindern gegenüber. Die Zahl der Haustiere ist seit Jahren stabil. Die Anzahl der Kinder bis zu 14 Jahren sinkt seit 1970 kontinuierlich.
Familie, das klingt heute so abgeschmackt wie das schmierige Familienfrühstücksbild aus der Margarine-Werbung. Die Kinder einer fleißigen, samstags das Trottoir fegenden Häuslebauer-Generation haben sich vom Masterplan "Mal heiraten und Kinder" verabschiedet. Selbstverwirklichern und Hedonisten ist das Gefühl für die urbürgerliche Keimzelle abhandengekommen. Abwartend, skeptisch distanziert beäugen Anfangzwanziger den Familienverbund, wie er ihnen irgendwann zu blühen droht.

Papa Sorglos
"Papa Sorglos" von Jo Berlien ist bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, enthält 264 Seiten und kostet 9,99 Euro. www.schwarzkopf-verlag.net
© Schwarzkopf & Schwarzkopf

Es macht sich eine neue kühle Mentalität breit im Land. Und es ist eine Schweizerin mit türkischen Wurzeln, die auf Etage zwei einen Stuhl herausstellt, damit die Schwangere beim Aufstieg in den Vierten Platz nehmen und verschnaufen kann. Es sind Musa im Gemüseladen und Herr Günes, der türkische Filialleiter bei Aldi, die neun Monate hindurch bei jedem Besuch im Laden fragen: »Wie geht’s?« Lebhaftes Interesse anstatt Höflichkeitsgefloskel, und nach geglückter Entbindung und bei der ersten Präsentation der Zwillinge sind sie so aus dem Häuschen, als wären sie selbst gerade Vater geworden.
In Deutschland kennt ein jeder Mittelschichtler wenigstens eine Frau und viele Männer, die wohlbegründet keine Kinder haben wollen. Und jeder hat im Bekanntenkreis unzählige bange Frauen jenseits der 35 mit doch noch erwachtem brennenden Kinderwunsch. Kinder kriegen derweil die Unterschichtler und eine saturierte gehobene Mittelschicht aus Ärzten, Anwälten, Unternehmensberatern.

Jo Berlien, geboren 1965. Sohn eines Kriegsflüchtlings, Seefahrers, Weltenbummlers und einer Dorfschönheit, Wirtin, Lebenskünstlerin. Wuchs als Kneipenkind auf. Hat eine Affinität für illustre Typen und eine Schwäche für Geschichten über Männer auf verlorenem Posten. Seit der Geburt seiner Zwillingsmädchen ist vieles anders. Darüber schreibt er in seinem Buch "Papa sorglos. Väter machen nichts richtig, aber manches besser", das bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen ist. Berlien lebt mit seiner Familie im Schwarzwald und in Straßburg.